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Der Tag, an dem die Freiheit Einzug hielt

Von Beppo Beyerl

Politik

November 1989: In Deutschland ist soeben die Berliner Mauer gefallen, Ungarn steuert mit voller Kraft in Richtung Marktwirtschaft und Demokratie, Polen hat erstmals einen nichtkommunistischen Regierungschef. In der CSSR klammert sich die alte KP-Garde weiterhin verbissen an ihre Macht. Doch am 17. des Monats versammeln sich im Prager Zentrum 18.000 Studenten, minütlich nimmt die Zahl der Demonstranten zu. Polizei und Staatssicherheit sind in höchster Alarmbereitschaft.


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Der Widerstand gegen das an Altersstarrsinn leidende tschechoslowakische KP-Regime begann eher bescheiden: Am 15. Jänner 1989 demonstreirten trotz des kalten Wetters etwa 2.000 Menschen auf dem Prager Wenzelsplatz. Das Datum war nicht zufällig gwählt und in Prag allseits bekannt: Am 15. Jänner 1969 hatte sich der Student Jan Palach aus Protest gegen den Einmarsch der Truppen des Warschauer-Paktes verbrannt. Die Demonstranten legten Blumen am Ort des Selbstmordes nieder, die Parteizeitung "Rude Pravo" kommentierte: "Auf dem Wenzelplatz in Prag haben am Sonntag einige staatsfeindliche Elemente versucht, eine seit längerem von diversen ausländischen Zentren und westlichen Radiosendern vorbereitete Provokation durchzuführen."

Von diesem Tag an sollten auf dem Wenzelsplatz in regelmäßigen Abständen Aktionen stattfinden, die entweder als "illegale Zusammenrottungen" oder als "Protestmanifestation" bezeichnet wurden. Die Teilnehmer sangen Lieder, legten Blumen vor der Wenzelstatue und am Denkmal Jan Palachs nieder und breiteten Plakate aus etwa mit dem Text: "S Havlem zpet do Evropy", also "Mit Havel zurück nach Europa". Anfangs hatte die StB (statni bezpecnost), die Staatssicherheit, die Situation im Griff: So wurde Vaclav Havel, der bei den Blumenaktionen teilnahm, am 21. Februar zu neun Monaten Gefängnis verurteilt - wegen "antistaatlicher Hetze".

Die Prager versammelten sich weiterhin auf dem Wenzelsplatz zu symbolisch besetzten Terminen. Am 21. August, dem 21. Jahrestag der Invasion der Truppen des Warschauer Paktes, zählte man 3.000 Demonstranten. Und am Tag der tschechoslowakischen Staatsgründung, am 28. Oktober, stieg deren Zahl auf etwa 15.000.

Parole: "Jan Opletal"

Dann sollte der 17. November kommen. Genau 50 Jahre vorher, am 17. November 1939, wurde der Student Jan Opletal begraben, den die Gestapo ermordet hatte. Anlässlich des Begräbnisses erfolgten damals wütende antifaschistische Proteste, worauf die Deutschen die Hochschule schlossen und die beteiligten Professoren und Studenten ins KZ schickten.

Am 17. November 1989 startete die von den Behörden genehmigte Demonstration - sie richtete sich offiziell gegen den Terror der Nazis - von der medizinischen Fakultät der Prager Uni, sie wurde von reformsozialistischen und unabhängigen Studentengruppen organisiert. Doch die Redner wandten sich bald gegen Staatspräsident Gustav Husak und die kommunistische Partei. Die Studenten trugen Banner mit Karikaturen des Parteichefs Milos Jakes in Naziuniform. Die Demonstranten, ihre Zahl soll 40.000, vielleicht sogar 50.000 betragen haben, zogen durch die enge Narodni trida zum Stadtzentrum. Dort gerieten sie in eine Falle, da die engen Nebengassen von Einheiten der Sonderpolizei besetzt waren. Bei der Auseinandersetzung - hier die erregten und nicht mehr völlig eingeschüchterten Demonstranten, dort die eher schon verzweifelten Einheiten der Sonderpolizei - erfolgten die bei solchen Situationen zu erwartenden Prügeleien. Laut Berichten von "Radio Free Europe" soll dabei ein junger Mann getötet worden sein, der Mathematikstudent Martin mid; eine Falschmeldung, wie sich später herausstellte, (siehe Beitrag rechts).

Doch dieses vermeintliche Opfer der Polizeiwillkür mobilisierte erst recht die Massen, die in den nächsten drei Tagen vehement auf den Wenzelsplatz drängten. Die Theater und die Hochschulen stellten ihren Betrieb ein und streikten. Und am 18. November gründeten die Demonstranten das "Obcanske forum", das "Bürgerforum", in dem die bürgerlich-liberal ausgerichteten Kräfte die Oberhand gewannen. Am 21. November bot der im Gegensatz zur Parteiführung unter Milos Jakes eher pragmatische Regierungschef Ladislav Adamec den Demonstranten einen Dialog an, "an dem jeder mitmachen soll, dem es um unser Land geht". Doch die Verhandlungen und die Ergebnisse "am runden Tisch" waren den Gegnern zu wenig: Mit Kompromissen gaben sie sich nicht mehr zufrieden.

Drei Tage später sprachen Vaclav Havel und Alexander Dubcek, die Galionsfigur des "Prager Frühlings", auf dem Wenzelsplatz in die Mikrofone. Am Platz und in den Nebenstraßen drängten sich an die 500.000 jubelnde Menschen. Die Einheiten der StP griffen nicht mehr in jenen Prozess ein, der zu diesem Zeitpunkt bereits als irreversibel gelten konnte.

Am selben Tag, am 24. November, tagte das Zentralkomitee der Kommunistischen Partei: Parteichef Milos Jakes trat zurück. Die gewaltlose, die "samtene" Revolution war am besten Weg zum Erfolg.