Ein bisschen langweilig, doch oft nützlich: Konzepte der Mitte in Politik, Ethik und Kunst.
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Im Internet wimmelt es nur so von Ermutigungen, Appellen und Versprechen, die uns ins Zentrum locken, vor allem ins eigene. "So findest du deine innere Mitte." - "Spüre deine innere Mitte, verankere dich in deiner inneren Mitte". - Dort findest du "ungeahntes Potential"; du erfährst das "reine Sein" und wirst "Schöpfer deines eigenen Lebens". Toll! Wenn das Heidegger noch erleben könnte!
Selbstfindungskitsch
Die spirituelle Seinserfahrung des Innere-Mitte-Angebots verbindet sich auffällig oft mit neoliberalen Strategien zur Selbstoptimierung. Die ökonomisch angehauchte Metapher "Du investierst nicht in dich!" fügt sich harmonisch zur Mahnung, im Umgang mit der Natur achtsam zu sein und schöne Augenblicke bewusst zu genießen. Wer es schafft, die Erfahrung "reinen Seins" mit kluger Investition ins verwertbare Selbst zu kombinieren, landet nicht nur in mentaler, sondern auch in mittelständischer Balance.
Die Grenze zwischen esoterischem Selbstfindungskitsch und brauchbaren Regeln der Lebensklugheit ist fließend. Führerinnen und Führer zur inneren Mitte berufen sich nicht ganz zu Unrecht auf ältere Weisheitslehren, von denen einige zumindest stückweise im Rang einer philosophisch relevanten Ethik stehen. Yoga kann man nicht als trivialen Firlefanz abtun. Auch Konfuzius erklärte in einer Schrift ausführlich, warum "Maß und Mitte" Voraussetzungen des geglückten Lebens sind, und aus den abendländischen Beiträgen zur Ethik der Mitte haben sich die von Aristoteles und der Stoa als traditionsbildend erwiesen. Sie zielten direkt auf die Lebenspraxis und waren gut mit der christlichen Tugendlehre vereinbar, die sich im Laufe der Spätantike gesellschaftlich etablierte.
Die Stärke der aristotelischen Ethik besteht darin, dass Aristoteles - im Gegensatz zu Platon - nicht von einer abstrakten Idee des Guten ausging, sondern von den Erfahrungen des Menschen in der Gemeinschaft mit anderen. Ob eine Handlung gut ist, erweist sich nicht durch ihre Übereinstimmung mit einem Dogma des Guten, sondern durch Bewährung in einer konkreten Situation. Tapferkeit ist eine Tugend, sie kann sich aber zur blödsinnigen Waghalsigkeit erhitzen. Auch ist Tapferkeit für einen Krieger etwas anderes als für einen Bürger, der Handel treibt, oder für eine Mutter, die ihre Kinder versorgt.
Ähnlich verhält es sich mit der Sparsamkeit. Sie kann, wenn das rechte Maß verloren geht, zum Geiz ausarten, der eine entschiedene Korrektur durch mehr Großzügigkeit braucht. Wollen wir als Vernunftwesen handeln, müssen wir Tugenden kontextualisieren und relativieren. Das ist nicht immer leicht. Fehler sind unvermeidlich. Shit happens. Was uns aber hilft, gute Entscheidungen zu treffen, ist die Leitvorstellung des rechten Maßes, der goldenen Mitte.
Das gilt nicht nur für das Private, sondern auch für die Einrichtung eines guten Staatswesens, der Aristoteles eine eminent wichtige Bedeutung zuspricht. Er entwirft - abermals im Unterschied zu Platon - keine geschlossene Staatsutopie. Ausgehend von den Erfahrungen seiner Zeit, behauptet er, dass es drei Staatsformen gibt, die bei angemessener Handhabung dem Gemeinwohl dienen können: Monarchie, Aristokratie und Polis-Verfassung. Radikalisiert sich aber die Monarchie als Tyrannis, verliert sie das Maß, ebenso eine Aristokratie, die in die gierigen Klauen selbstsüchtiger Oligarchen fällt.
Den Vorzug gibt Aristoteles eindeutig dem Verfassungsstaat, der Polis. Sie beruht auf einem Ausgleich der politischen Interessensgegensätze, auf einem breiten Mittelstand und einer akzeptierten Vermögensverteilung.
Auch ein Verfassungsstaat kann allerdings zum Schlechten führen, wenn er zur Pöbelherrschaft verkommt. "Demokratie" war für Aristoteles kein positiver Begriff. Er blieb auch insofern ein Geisteskind seiner Zeit, als er die Sklaverei und die Benachteiligung der Frau nicht als Verletzung des "rechten Maßes" beurteilte. Für die Ideolog*innen der Cancel Culture wäre das möglicherweise ein Grund, diesen sehr alten weißen Mann aus der Geschichte der Philosophie zu streichen, was natürlich Unfug ist.
Wer die gesamte Menschheitsgeschichte nur nach den eigenen Moralkriterien beurteilt, hat die Bedeutungsbalance zwischen sich selbst und dem bescheidenen Rest der Welt verloren.
Ich wage die These, dass Aristoteles, wäre er unser Zeitgenosse, die Sklaverei ablehnen und die Gleichberechtigung der Frau gutheißen würde. Der Vorteil der aristotelischen Ethik besteht nicht zuletzt darin, dass man klüger und besser werden kann, ohne deshalb ein Ideal zu verraten. Maßgeblichen Indizien zufolge wäre Aristoteles, wenn er seinem flexiblen Prinzip der goldenen Mitte bis heute treu geblieben wäre, ein Vertreter des liberaldemokratischen Rechtsstaats, mehr oder weniger bürgerlich, allerdings mit einem eher elitären Verständnis von Kunst und Wissenschaft.
Da in der politischen Mitte derzeit die Mehrheit der österreichischen Wählerinnen und Wähler vermutet wird, ist sie hierzulande ein umkämpftes gesellschaftliches Feld. Eine Partei, die in der Mitte mehrheitsfähig wird, hat gute Chancen, eine Regierung zu führen. Sebastian Kurz war seinen Wahlerfolgen charakterlich nicht gewachsen, dass er aber ein Hochbegabter der politischen Kommunikation ist, gestehen ihm auch seine schärfsten Gegner zu. Und es waren just die Werte und Symbole einer mehr oder weniger bürgerlichen Mitte, für die er breite Zustimmung fand: Arbeit, Leistung, Familie, Eigentum, Heimat, Sicherheit.
Habituell inszenierte sich Kurz als höflicher junger Mann mit guten Manieren, als konservative Alternative zu jener progressiven Ikonographie, die den jungen Menschen gerne nach prometheischem Schnittmuster anlegt, als rebellische Figur gegen das Alte und Verkrustete, gegen Unrecht und böse Autorität.
Stunde der Revolutionäre
Das Ideal der Mitte, wie auch immer es in wechselhaften Zeiten definiert wurde, ist nicht zwangsläufig mehrheitsfähig. In angespannten, mehrdeutigen historischen Situationen sind an sich harmlose, aber verunsicherte Menschen auch für extreme Positionen zu gewinnen, die den Anschein erwecken, sie könnten den gordischen Knoten der Geschichte mit einem beherzten Schlag lösen. Wenn die Radikalisierungsbereitschaft in der gesellschaftlichen Mitte angekommen ist, dann schlägt die Stunde von Revolutionären aller Art.
Vor allem sind es dann "starke Männer", denen es gelingt, ein messianisches Image aufzubauen, dessen toxischer Wirkung sich der "kleine Mann" beiderlei Geschlechts nur schwer entziehen kann. Die Führerfiguren bieten einfache, vordergründig überzeugende Erklärungsmuster an. Entweder sind "die Juden" schuld oder "der Kapitalismus", "der Westen" oder "die Migration". Ist der Sündenbock erst einmal geschlachtet, soll alles gut werden. So lautet das Versprechen, die Realität sieht anders aus. Wo und wann immer politische Extreme unkontrolliert wirken, sind totalitäre Machtausübung, Gewalt und Zerstörung die Folgen.
Liegt dann die Welt in Scherben, sind es hauptsächlich Frauen und Männer aus der Mitte der Gesellschaft, die sich an die Aufräumungsarbeiten machen, mit Geduld, Vernunft, Kompromissfähigkeit und Redlichkeit. Diese Tugenden wirken ein bisschen langweilig, unheroisch und ereignisarm, sie haben sich aber schon oft als nützlich und menschenfreundlich erwiesen. Zum Beispiel in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg.
Verlust der Mitte?
Es ist kein Zufall, dass im Jahr 1948, also in der politischen Katerstimmung der Nachkriegszeit, im Salzburger Otto Müller Verlag ein Buch mit dem Titel "Verlust der Mitte" erschien und große Resonanz fand, obwohl der Untertitel "Die bildende Kunst des 19. und 20. Jahrhunderts als Symptom und Symbol unserer Zeit" auf einen schmalen, fachspezifischen Interessentenkreis schließen lässt. "Verlust der Mitte" von Hans Sedlmayr erlebte bis 1998 elf, parallel dazu als Ullstein Taschenbuch siebzehn Auflagen, und löste eine produktive Kontroverse über die Kunst der Moderne aus, an der sich auch Umberto Eco beteiligte ("Vom Cogito interruptus", 1967).
In einer originellen Doppelbesprechung von Sedlmayrs "Verlust der Mitte" und Marshall McLuhans "Understanding Media" resümiert Eco, dass sich beide Autoren in ihren Büchern "auf die gleichen Ereignisse" berufen, sie aber konträr beurteilen: "... der eine (Sedlmayr, Anm.) erwähnt sie im düsteren Ton der Klage, der andere mit fröhlichem Optimismus, der eine schreibt sie auf Bögen mit Trauerrand, der andere auf Hochzeitsanzeigen, der eine versieht sie mit einem Minus-Zeichen, der andere mit einem Plus-Zeichen".
Es geht um die Moderne, deren Anfänge Hans Sedlmayr - nicht ganz zu Unrecht - in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ansetzt. Die Französische Revolution markiert diese Bruchstelle. Sedlmayr interpretierte Kunst und Architektur der Moderne als ästhetische Symptome einer allgemeinen kulturellen Krise, an deren Anfang der Tod Gottes steht, eigentlich die vom Menschen selbstverschuldete Tötung Gottes. Der moderne Mensch hat seine spirituelle Orientierung verloren, in weiterer Folge verliert er seine Balanceposition zur Natur und zum Organischen, in letzter Konsequenz das mitmenschliche Gleichgewicht und ein tragfähiges humanistisches Selbstbild. Kurzum: Verlust der Mitte.
Umberto Eco kritisierte Hans Sedlmayr als "Spätling des Mittelalters" und unsoliden "Blender". Andere kritische Stimmen wiesen darauf hin, dass der Kunsthistoriker von 1930 bis 1945 NSDAP-Mitglied gewesen war. Seine Klage über den Verfall des christlichen Humanismus habe vor diesem Hintergrund etwas Scheinheiliges. Nach dem Wiederlesen von "Verlust der Mitte" aus der Distanz von mehr als siebzig Jahren überzeugen mich differenzierende Stimmen am meisten (wie etwa jene von Horst Bredekamp).
Für Sedlmayrs These spricht, dass sich die avantgardistisch auftretenden Kunstvarianten seit der europäischen Frühromantik an vielen Orten platziert haben, aber keinesfalls in der Mitte, die zum Symbol einer blutarmen, kreativitätsfeindlichen, spießigen Mittelmäßigkeit abstieg. In der Antithese von bürgerlicher und künstlerischer Lebens- und Schaffensform wurde die Flucht der Kunst aus der lauwarmen Mitte auch literatursoziologisch greifbar. Von Goethes Werther-Roman über Clemens Brentano, E.T.A. Hoffmann und Lord Byron - um nur einige Namen zu nennen - zieht sich die Spur der gemiedenen, verachteten bürgerlichen Mitte bis zum Symbolismus und Expressionismus. Für den schreibenden Bürger Thomas Mann wurde dieser Gegensatz zum Lebensthema.
Richard Wagner, dem die antibürgerliche Künstler-Attitüde trotz einer gewissen Marketing-Tüchtigkeit alles andere als fremd war, riskierte in "Die Meistersinger von Nürnberg" eine Synthese. Walther von Stolzing ist Ritter und Künstler. Wäre da nicht Eva, die schöne Tochter des Nürnberger Bürgers Veit Pogner, wäre ihm die Meistersinger-Kunst keinen gesungenen Halbton wert. Da aber der Preis des Wettsingens die Hand der jungen Pognerin ist, beteiligt er sich daran. Überzeugt von seiner Überlegenheit, ergeht sich Stolzing in expressiv-schwelgerischem Gesang und ignoriert das Regelsystem der Meistersinger-Schule. Dessen Hauptrepräsentant ist Beckmesser, die Karikatur des einfallslosen Bürgers, der gerne Künstler wäre.
Der poetisierende Schuster Hans Sachs ist der einzige Meistersinger, der das künstlerische Potential von Stolzings regelfernem Werk erkennt. Er überzeugt den präpotenten Ritter davon, dass sein Lied an Wirkungskraft gewinnen kann, wenn er von der Kanzonenform, die das kleinkarierte Regelsystem vorschreibt, freien Gebrauch macht. Solides musikalisch-literarisches Handwerk und geniale Idee schließen sich nicht aus. Wieder einmal liegt die Lösung im rechten Maß. Darum bezieht Hans Sachs einerseits gegen den Kreativitätsbremser Beckmesser Partei, warnt aber auch den ritterlichen Sänger: Verachtet mir die Meister nicht!
Ausgerechnet das unvoreingenommen lauschende Volk ist es letztlich, das Walther Stolzings unkonventioneller Novität begeistert Beifall spendet. Richard Wagner attestiert am Schluss seiner Oper dem geschätzten Publikum eine "natürliche" Kunstempfindung, die sich mehr auf ein mythisch überhöhendes Volksverständnis gründet als auf soziokulturelle Fakten der Rezeption. Denn zu welcher Art von "echtem" Kunstverständnis das "gesunde Volksempfinden" führen kann, zeigte sich in deutschen Landen einige Jahrzehnte später...
Die Hoffnung, die "wahre" Kunst behaupte sich in jener Mitte, wo die Mehrheit Bravo schreit, ist entweder naiv oder folgt bedenkenlos der Quotenlogik des Marktes. Man muss Theodor W. Adornos pessimistischer Kritik der kapitalistischen Kulturindustrie nicht in allen Punkten zustimmen, einiges ist aber trotz Postmoderne und erweitertem Kulturbegriff beachtenswert geblieben.
Den Kern des Problems - hohe Einschaltquote durch ästhetisches Mittelmaß - hat Kurt Tucholsky 1931 in Versform auf den Punkt gebracht: O hochverehrtes Publikum, / sag mal: bist du wirklich so dumm, / wie uns das an allen Tagen / alle Unternehmer sagen? / Jeder Direktor mit dickem Popo / spricht: "Das Publikum will es so!" / Jeder Filmfritze sagt: "Was soll ich machen? / Das Publikum wünscht diese zuckrigen Sachen!" / Jeder Verleger zuckt die Achseln und spricht: / "Gute Bücher gehn eben nicht!" Tucholskys Resümee zielt scharf in die Mitte: Es lastet über dieser Zeit / Der Fluch der Mittelmäßigkeit.
Rastet nämlich der Trend zur goldenen Mitte ausgerechnet bei der Vokabel "mittelmäßig" ein, hält sich nicht nur die Begeisterung der Kunstkritik in Grenzen, sondern auch die einer optimierungswilligen Gesellschaft. Mit durchschnittlichem Wirtschaftswachstum, den mittleren Olympiade-Rängen oder gar einem mittelmäßigen Bildungssystem ist niemand so recht zufrieden.
Die Empörung darüber, nur Mittelmaß hervorzubringen, stellt sich alle zwei Jahre ein, wenn die PISA-Daten veröffentlicht werden. Der Schlagzeile "Österreichs Schulen sind nur Mittelmaß!" folgt nicht die Freude darüber, in Sachen Leistungsanforderungen den goldenen Mittelweg gefunden zu haben, vielmehr gilt das Mittelmaß als "Bildungsmisere". Die Aufregung ist groß, die Suche nach den Schuldigen verläuft nach rituellem Muster und überführt die üblichen Verdächtigen: Erstens das Bildungssystem (was immer man darunter versteht), zweitens die pädagogisch (bestenfalls!) mittelmäßigen Lehrkräfte.
Schülerinnen und Schüler haben nichts falsch gemacht, denn sie wären nach gängiger Interpretation eigentlich erstklassig, werden aber durch die Schule an der Entfaltung ihrer Hochbegabung gehindert. Ein bildungspolitischer Wahlkampf-Slogan der Grünen (2018) lautete: "Alle Kinder sind sehr gut." Aus statistischer Sicht ist diese These verwegen, das macht aber nichts. Die Eltern und ihre Kinder sind entlastet. Bildungsexperten treten besorgt ins mediale Rampenlicht und treffen dort auf eine Politik, die mutige Reformen ankündigt. So sind alle zufrieden. Letztlich geht es eben doch darum, dass die Mehrheit in ihrer inneren Mitte glücklich ist - und dort das Potential ihres reinen Seins spürt.
Christian Schacherreiter, geboren 1954 in Linz, ist Germanist, Autor und Literaturkritiker. Zuletzt ist von ihm der Roman "Das Liebesleben der Stachelschweine" (Otto Müller Verlag, 2022) erschienen.