Der Oppositionelle Ahmad Massoud wünscht sich für Afghanistan eine politische statt einer militärischen Lösung.
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Demokratische Strukturen für ein Afghanistan nach den Taliban auszuarbeiten - das war das Ziel einer privat initiierten Konferenz in Wien, bei der sich afghanische Politiker und Aktivisten versammelten. Prominentester Teilnehmer des "Vienna process" war Ahmad Massoud, Anführer der Nationalen Widerstandsfront von Afghanistan (NRF). Im Gespräch mit der "Wiener Zeitung" erzählt er über die Gefahr, die von den Taliban ausgeht und das, was zu ihrem Untergang führen könnte.
"Wiener Zeitung": Die Welt scheint sich mit den Taliban abgefunden zu haben, die Aufmerksamkeit des Westens ist ganz auf den Krieg in der Ukraine gerichtet. Sitzen die Taliban also fest im Sattel?
Ahmad Massoud: Es mag anfangs Hoffnungen gegeben haben, dass die Taliban eine halbwegs inklusive und funktionierende Regierung aufbauen werden. Doch das taten sie nicht. Sie verletzen die Menschenrechte, benachteiligen Frauen und ethnische Gruppen und begehen systematisch Kriegsverbrechen in ganz Afghanistan. Dadurch spalten und destabilisieren sie die Gesellschaft. Das vergangene Jahr hat außerdem gezeigt, wie materialistisch die Taliban veranlagt sind; sie gieren nach Macht und den Ressourcen des Landes, um sich daran zu bereichern. Was sie derzeit an der Macht hält, ist vor allem der Terror, den sie ausüben und die Angst der Bevölkerung. Außerdem gibt es ein paar Länder, die mit ihnen Geschäfte machen, weil die Taliban für sie aus taktischen Gründen nützlich sind. Diese Dinge werden wohl dazu beitragen, dass die Taliban noch länger an der Macht bleiben werden. Aber die Menschen in Afghanistan sind darüber nicht glücklich, und die Diaspora ist es auch nicht. Machen sie so weiter wie bisher, ist der Untergang der Taliban nur eine Frage der Zeit.
Was macht Sie da so sicher?
Ihre Unfähigkeit zu regieren, ihre Grausamkeit und die fehlende Legitimität der Regierung führen zusehends zu Unzufriedenheit bei den Afghanen, was die Taliban natürlich versuchen zu leugnen. Der bewaffnete Widerstand ist nur ein Teil davon. Innerhalb Afghanistans widersetzen sich etwa Frauen der Unterdrückung durch die Taliban, ebenso wie Künstler und Politiker. Auch die Diaspora sucht nach neuen politischen Lösungen, was nicht zuletzt in Initiativen wie dem "Vienna process" deutlich wird. Auch gegenüber der internationalen Gemeinschaft haben die Taliban ein Versprechen nach dem anderen gebrochen. Außerdem erleben wir derzeit, wie alte Partner die Taliban verurteilen. Sogar Qatar und Pakistan stellen fest, dass Afghanistan zusehends zu einer Drehscheibe für Terrorismus wird.
Wären Sie bereit, den bewaffneten Widerstand gegen die Taliban auch in Zukunft anzuführen?
Ich bin eindeutig für den Frieden und glaube, Afghanistan braucht eine politische, keine militärische Lösung. An erster Stelle stehen Gespräche und Verhandlungen mit den Taliban und die Appelle an regionale und Weltmächte, die Taliban in die Schranken zu weisen. Der bewaffnete Widerstand ist ein letztes Mittel, wenn alles andere versucht wurde, aber fehlgeschlagen ist. Wir (die NRF) sehen den bewaffneten Widerstand als Mittel zur Selbstverteidigung. Wir wollen ein demokratisches, freies Afghanistan mit einer rechenschaftspflichtigen und legitimen Regierung. Dieses Ziel verfolgen wir, und ich hoffe, dass wir es eines Tages erreichen können.
Sie fordern weitere Sanktionen gegen die Taliban. Besteht nicht die Gefahr, dass diese das Leid der afghanischen Bevölkerung vergrößern?
Wenn ich von Sanktionen gegen die Taliban spreche, meine ich nicht solche, die dem afghanischen Volk schaden. Ich spreche von Sanktionen gegen jene Individuen, die bereits auf der Schwarzen Liste des UN-Sicherheitsrates stehen. Diese Liste sollte durch weitere Personen aus dem Regime ergänzt werden. Es sollte diesen etwa verboten werden, zu reisen und ihr politisches Engagement innerhalb der Region und darüber hinaus zu vertiefen. Es geht darum, alles in unserer Macht stehende zu tun, um zu verhindern, dass die Taliban ihre Herrschaft in Afghanistan festigen können. Wie wir bereits nach einem Jahr sehen, ist das Land verarmt; unsere Wirtschaft liegt am Boden. Frauen wurden ihrer Rechte beraubt, Afghanistan ist außenpolitisch isoliert. Das Land ist zu einer Drehscheibe für den Terrorismus geworden. Die jetzige Situation könnte zu einer Gefahr für die ganze Welt werden. Verantwortung dafür tragen die Taliban; sie haben uns in diese Lage gebracht. Deshalb müssen wir sie für all diese Gräueltaten und Probleme zur Verantwortung ziehen. Und deshalb müssen wir ihre weitere Konsolidierung verhindern. Wenn wir daher von Sanktionen sprechen, sollten diese gut durchdacht und geplant sein, damit sie die Taliban treffen und nicht dem Volk schaden.
Im Februar hat US-Präsident Joe Biden angekündigt, einen Teil der eingefrorenen Vermögenswerte Afghanistans den Opfern des 11. September 2001 zukommen zu lassen. Halten Sie das für vernünftig?
Überhaupt nicht. Ich halte es für eine weitere von mehreren unglücklichen Entscheidungen der USA, wie das Abkommen von Doha (zwischen den USA und den Taliban) oder der vorzeitige Abzug aus Afghanistan. Kein einziger Afghane war an den Anschlägen vom 11. September beteiligt. Warum also wird das Geld des afghanischen Volkes an andere weitergegeben? Ich halte das für einen Fehler. Für einen weiteren Fehler halte ich, dass ein anderer Teil dieser afghanischen Vermögenswerte vor kurzem an eine Schweizer Bank übertragen wurde, damit einige Leute das verwalten und verteilen können. Wer sind diese Leute und wie kommen sie in die Position, über das Vermögen des afghanischen Volks zu verfügen? Wer hat sie ausgewählt und wem gegenüber sind sie verantwortlich?
Tatsächlich waren keine Afghanen an den Anschlägen vom 11. September beteiligt. Aber Al Kaida konnte Afghanistan als Basis für ihre Operationen nutzen . . .
Vor 22 Jahren kam mein Vater nach Europa, besuchte Brüssel und Frankreich. Er sagte den europäischen Regierungen klar und deutlich, dass, wenn die Welt weiterhin den Ereignissen in Afghanistan keine Bedeutung schenkt, es zu einer Katastrophe kommen werde. Er sprach von Al Kaida und dem internationalen Terrorismus, aber niemand wollte ihm zuhören. Ein Jahr später geschah der 11. September. So wie damals sagen wir auch heute, dass die Taliban nicht unser Land repräsentieren, ebenso wenig wie Al Kaida. Wir waren die ersten Opfer des 11. September, denn die selbe Gruppe, die diesen plante, ermordete zwei Tage zuvor meinen Vater. Diese Dinge hängen zusammen. Wenn die Warnungen meines Vaters gehört worden wären, gäbe es die heutigen Probleme nicht. Und auch jetzt sagen wir wieder, dass die aktuelle Situation in Afghanistan der Nährboden für zukünftige Probleme ist.
Einige Afghanen mit denen ich sprach, sagten, Sie wären mit 33 Jahren zu jung, um Afghanistan zu vereinigen. Was antworten Sie ihnen?
Ich will ganz offen sein: Keine Person in der Geschichte Afghanistans wird jemals in der Lage sein, das ganze Land zu einigen. Wir zielen daher nicht darauf ab, Afghanistan zentralistisch zu führen. Vielmehr wollen wir eine Reihe von Werten und Zielen definieren, die nützlich für alle sind und auf die sich alle Ethnien und Gruppen in Afghanistan verständigen können. Wer könnte etwas dagegen haben, wenn Mädchen die Schule besuchen und Frauen Rechte haben, wer könnte gegen ein Ende des Krieges sein oder gegen eine Regierung, die der Bevölkerung gegenüber verantwortlich ist? Wer will nicht mitentscheiden, wie die örtliche Verwaltung aussieht? Wer könnte etwas gegen gute Beziehungen mit den Nachbarn und der Welt haben? Rund um diese Werte wollen wir eine Übereinkunft mit der afghanischen Bevölkerung über die Zukunft des Landes finden. Was den Vorwurf anbelangt, ich sei zu jung: Zahlreiche der älteren politischen Figuren sind in Verruf geraten, für ihre Korruption bekannt oder mit anderen Problemen behaftet. Ich glaube, jung zu sein, steht auf der Liste der schlechten Eigenschaften an letzter Stelle.