Über Jahrhunderte prägte der Gegensatz zwischen katholischem und republikanischem Frankreich das Land. Doch die alten Fronten lösen sich ebenso auf wie alte Gewissheiten. Zurück bleiben angewitterte Kirchen und der Streit um sie.
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Geheimnisvoll leuchtet das Reliquienkästchen im Dunkeln. Es ist das Herzstück des Museums von Sens. Seine ursprüngliche Verwendung sei ungeklärt, erzählt der Aufseher, erfreut darüber, dass sich jemand in die leeren Säle verirrt. Für den Betrachter sind solche Fragen unerheblich. Seine Wirkung entfaltet das Kleinod durch die starre, vertikale Anordnung seiner in Elfenbein geschnitzten Figuren. Es ist der ferne Spiegel einer Welt, in der jeder Mensch einst von Gott einen festen Platz auf Himmel und Erden zugewiesen bekam.
Auf der Place de la Republique vor dem Museum verstauen Marktleute ihre Ware und spannen die Schirme ab. Sonnenhungrige sitzen vor den Cafes und trinken belgisches Bier. Eigenartig fremd mutet in dieser frühlingshaften Atmosphäre die streng hierarchische Vorstellung an, die die Menschen des Mittelalters von der Welt hatten. Doch das Heute scheint nicht weniger geordnet: Mit seiner prächtigen Kathedrale, dem Wochenmarkt und dem Rathaus aus der Belle Epoque, von dem die Trikolore weht, wirkt das burgundische Städtchen wie ein Abziehbild von "La France eternelle", dem ewigen Frankreich, das seine mythische Kraft aus der Tiefe der Provinz bezieht.
Linke Lehrer gegen rechte Lehrer
Das Idyll ist freilich brüchig. Unweit vom Zentrum verschanzt sich die Kassiererin einer Tankstelle hinter Gitterstäben. Im Juni des Vorjahres haben jugendliche Randalierer bei nächtlichen Ausschreitungen Autos in Brand gesteckt und Schaufenster zertrümmert. Es waren nicht die ersten Krawalle in Sens. Längst ist der Straßenkampf der Pariser Banlieue in die Provinz vorgedrungen.
Mit etwas seismografischem Gespür konnte man die Vorboten dieser Eruption schon Anfang der 1990er-Jahre erahnen. Damals unterrichtete ich ein Schuljahr lang an einem Gymnasium am Stadtrand von Sens. An der Staatsspitze stand Francois Mitterand, der sphinxhafte Sozialist, der die Franzosen in seinen Bann zog und polarisierte. Auch durch das Lehrerkollegium zog sich ein tiefer Riss. Auf der einen Seite standen die Linken, die Gitanes qualmten und alle möglichen Streiks planten. Auf der anderen hielten die Rechten in Unterzahl trotzig das neogaullistische Banner hoch. Argwöhnisch belauerten beide Lager einander.
Und dann gab es in Sens noch eine dritte Gruppe: Junge Vertragslehrer aus dem Maghreb und den ehemaligen Kolonien in Afrika, die auf der Suche nach einer Festanstellung von einer Schule zur nächsten tingelten, um am Ende verloren zwischen allen Stühlen zu landen.
Mit einem von ihnen, Ignace aus Kamerun, freundete ich mich an. Manchmal gingen wir am Abend zu Paul, einem Mathematikprofessor, der sein Heimweh nach Afrika in Wodka ertränkte, sich im Rausch Boxhandschuhe überstreifte und mir in einer Mischung aus Verzweiflung und Aggression dann gegen die Schultern drosch.
Dreißig Jahre später kurve ich auf der Suche nach Pauls Wohnung durch Sens. Das Viertel, in dem er wohnte, war schon seinerzeit als Ghetto mit hoher Delinquenz verrufen und wirkt genauso trostlos, wie ich es in Erinnerung habe. Ein heruntergekommener Sozialbau reiht sich an den anderen. In die ehemalige Filiale der Banque Populaire ist ein muslimischer Fleischhauer eingezogen. Junge Männer in Lederjacken stehen vor dem Geschäft und mustern die Passanten.
Es ist später Nachmittag. Vor der Stadt taucht die Sonne die sanft geschwungenen Hügel in ein fahles Licht. Auf der von Platanen gesäumten alten Route Nationale 5 nach Paris herrscht dichter Verkehr. Nicht unweit von hier muss die Stelle liegen, an der vor 62 Jahren Albert Camus und sein Verleger Michel Gallimard bei einem Autounfall starben.
Le malheur francais
"Wie war es in Sens? Das war einmal eine sehr bürgerliche, stille Provinzstadt", sagt Marcel Gauchet, der mich am Tag darauf in seinem Büro am Stammsitz des wohl berühmtesten französischen Verlages in Paris empfängt. Der Historiker und Philosoph war viele Jahre Chefredakteur der bei Gallimard herausgegebenen Zeitschrift "Le Debat" und hat jüngst ein Buch über das Scheitern Emmanuel Macrons als großer Erneuerer Frankreichs veröffentlicht.
Auch wenn kein Zweifel an seiner Wiederwahl bestehe, habe der Präsident entgegen seinen Ankündigungen kein Mittel gegen das fatale Gefühl des Niedergangs gefunden, das weite Teile der Bevölkerung erfasst habe, sagt Gauchet. "Le malheur francais", das französische Übel, nennt der 76 -Jährige diesen giftigen Cocktail aus Niedergeschlagenheit und zornigem Aufbegehren gegen die Eliten. "Ich werfe Macron nichts vor. Er besitzt politische Intuition. Er hat begriffen, dass das auf dem Gegensatz von rechts und links gründende politische System in Frankreich nicht mehr funktioniert." Doch Macron sei ein Mann des Status quo, der die Abwärtsspirale nur beschleunige, glaubt Gauchet.
Er ist nicht der einzige Intellektuelle, der in Sorge um Frankreichs Zukunft ist. In seinem Bestseller "L’Archipel francais" zeichnete der Politikwissenschaftler Jerome Fourquet vor zwei Jahren das beunruhigende Bild einer Nation, die als Ergebnis von Massenzuwanderung, rasanter Individualisierung und dem Verschwinden des Katholizismus als die das Land strukturierende Kraft in unzählige Inseln mit unterschiedlichen Interessen und Identitäten zersplittere.
Diese Ent-Christianisierung hatte Marcel Gauchet schon vor fast vierzig Jahren in seinem Buch "Die Entzauberung der Welt" diagnostiziert. Für Fourquet ist sie nun so gut wie abgeschlossen. Die Zahlen sind dramatisch: Gingen 1960 noch 35 Prozent der Franzosen zur Sonntagsmesse, sind es heute nur noch zwischen drei und fünf Prozent. Und schreibt sich der Klerikerschwund in der jetzigen Geschwindigkeit fort, gibt es in 25 Jahren im Land keine katholischen Priester mehr. Sie erleiden das Schicksal der einst zahllosen Maries. Ihr für Frankreich einmal so typischer Vorname ist so gut wie verschwunden.
Was aber bedeutet die Auflösung der katholischen Matrix für ein Land, das sich einst stolz die älteste Tochter der Kirche nannte und in dem sich ein Kirchturm an den anderen reiht?
Im kleinen Dorf Solignac, 400 Kilometer südwestlich von Paris haben auf Einladung des Ortsbischofs im November des Vorjahres zehn traditionalistische Benediktinermönche aus Flavigny-sur-Ozerain in Burgund die alte Abtei wiederbesiedelt, die in der Französischen Revolution aufgehoben worden war. Das führte zu antiklerikalen Protesten in der 1600 Seelen zählenden Gemeinde. Eine Handvoll laizistisch gesinnter Aktivisten stößt sich an der bloßen Präsenz des Priorats Saint-Joseph, das zudem Eigenbedarf für eine zum Kloster gehörende Wiese angemeldet hat, die bisher der Allgemeinheit zugänglich war. Hässliche Worte fielen, primitive Karikaturen machten die Runde.
"Sie kommen als Eroberer"
Noelle Gilquin kann dem Kirchenhass nichts abgewinnen. "Ich bin engagierte Katholikin,", sagt sie. Nur zögerlich hat die 75-jährige ehemalige Schafzüchterin einem Treffen in ihrem alten Herrenhaus in den Hügeln oberhalb von Solignac zugestimmt. Zu sehr würden die Medien die Auseinandersetzung zum Kulturkampf um die laizistischen Werte der Republik verkürzen. Dabei habe er viel dramatischere Auswirkungen auf das religiöse Leben im Dorf. "Ich glaube von Herzen an die Kirche Christi, habe die Zeit vor dem Konzil erlebt und jene danach mit ihren Exzessen, als man zu vieles banalisierte. Aber diese Mönche kommen wie Eroberer!"
Für die kleine Pfarrgemeinde von Solignac ist die Ankunft der Ordensleute eine Zäsur. Obwohl die Abteikirche mehr als 230 Jahre ihr spirituelles Zentrum war, findet sie jetzt keinen Platz mehr. Die Messe wird nun im vorkonziliaren Tridentinischen Ritus in lateinischer Sprache gefeiert. Und auch für das Adventkonzert, das sie viele Jahre lang veranstaltete, wird Madame Gilquin einen neuen Ort finden müssen. Die neuen Hausherren wünschen keine Entweihung des Gotteshauses. Noch bevor sie ankamen, hat der beliebte Pfarrer sein Amt niedergelegt und das Dorf verlassen. Sein Nachfolger wohnt nicht mehr im Ort. Dafür strömen jetzt Traditionalisten aus ganz Frankreich nach Solignac. "Dieser Konflikt macht mich krank. Eine Kirche gibt einem Dorf so viel Kraft. Das war unsere Kirche. Das sind unsere Wurzeln", sagt Noelle Gilquin zum Abschied bitter. In ihrem Garten blühen die ersten Narzissen.
Das Dorf bleibt gespalten
"Das Problem ist, dass der Bischof den Mönchen ein komplettes Projekt verkauft hat, das neben der Abtei die Pfarrkirche inkludiert, obwohl diese im Besitz der Gemeinde Solignac ist", sagt Bürgermeister Alexandre Portheault. Erst in der Vorwoche habe man Heizungskosten in der Höhe von 1600 Euro beglichen. "Die Mönche können nicht so tun, als ob die Abteikirche nur ihnen gehört."
Das Dorf bleibt gespalten. "Das ist viel Lärm um nichts", sagt Pascal Meynard, der die Bar in der Ortsmitte betreibt und sich von den Mönchen eine ökonomische Belebung erhofft.
Und die Mönche selbst? Ihr Prior Benoit Joseph will offiziell nichts mehr zur Auseinandersetzung sagen. Man fühlt sich missverstanden. Letztlich geht es um Wahrheit, eine Wahrheit, zu deren Verteidigung der Pater sehr schnell mit dem Teufel bei der Hand ist. Aber vielleicht ist das eine der Folgen, wenn Religionen verschwinden. Ihr Feuer verlischt. Zurück bleiben einzelne Glutnester und die schlackeartigen Verkrustungen eines Glaubens, der einst in den Menschen lebte.
Zum Autor~Stefan Winkler ist Redakteur und Mitglied der Chefredaktion der "Kleinen Zeitung". Er leitet das Ressort "Hintergrund und Meinung". Winkler reist vor den beiden Wahlgängen in Frankreich durchs Land. Lesen Sie morgen: Das Ende der roten Kirche.