Sechs Jahre lang war Stefan B. spielsüchtig. In der Zeit hat er alles verloren - Geld, Freunde, Partnerin. Seine Schulden betrugen insgesamt 1,1 Millionen Euro. Geheilt von seiner Sucht ist er bis heute nicht.
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Ein kleiner, stickiger Raum voll Zigarettenrauch. Immer wieder ertönt eine schrille Melodie aus einem der Spielautomaten. Die Spieler sitzen teils angespannt, teils betrunken auf ihren Ledersesseln - denn bequem muss es ja sein. Jeder soll schließlich so lange wie möglich bleiben. Mehr oder weniger nervös drücken sie die Knöpfe an den Automaten. Mit jedem Klick verschwindet das Geld. Verschluckt vom großen Verführer - dem Spielautomaten. Der Reiz des schnellen Gewinns liegt in der Luft. Fenster sucht man hier vergebens - schließlich sollen die Spieler jegliches Zeitgefühl verlieren.
All das klingt eigentlich nach einem Ort, an dem man sich nicht wohlfühlen kann. Bei Stefan B. (Name geändert) war das anders. Es war weniger die Atmosphäre, die ihn in die Spielhallen zog. Es war die Sucht. Die Sucht zu spielen, zu wetten und zu gewinnen. Wenn Stefan B. heute im Wettbüro steht, um einen Fußballtipp abzugeben, ahnt niemand, welches Schicksal sich hinter seinen blauen Augen verbirgt.
Dem Spiel verfallen
Vor einigen Jahren hatte Stefan noch eine eigene Firma, viele Bekannte und wohnte mit seiner festen Freundin zusammen. Mit anderen Worten - er führte ein geregeltes Leben. Heute ist Stefan 31 Jahre alt und hat nichts mehr von alledem. Der Grund: Er hat alles durch seine Spielsucht verloren. So wie Stefan sind Tausende, zunehmend junge Österreicher dem Glücksspiel verfallen. Laut einer Studie der Österreichischen ARGE Suchtvorbeugung, einem Zusammenschluss der Suchtpräventionsfachstellen der einzelnen Bundesländer, wiesen im vergangenen Jahr 64.000 Menschen in Österreich entweder ein problematisches oder pathologisches Spielverhalten auf.
"Jetzt bin ich 31 und wohne bei meinem Opa." Stefan ist vor einigen Tagen aus dem Vinzenzhaus, einem sozialtherapeutischen Übergangswohnheim für Männer, zu seinem Großvater und dessen Lebensgefährtin in eine 72 Quadratmeter große Gemeindewohnung im zehnten Wiener Gemeindebezirk gezogen. Er hat sonst niemanden, an den er sich wenden könnte. Zu seinen Eltern kann er nicht gehen, Stefans Vater möchte keinen Kontakt mehr zu seinem Sohn. Es ist einfach zu viel passiert. Zu viele Lügen, zu viele Enttäuschungen.
Bereits in der Kindheit drehte sich alles ums Gewinnen oder Verlieren in Stefans Familie. Der Verlierer musste als Konsequenz bestimmte Aufgaben erfüllen. Mit 16 Jahren verdiente Stefan sein erstes Geld mit Fußballwetten. "Ich bin durch das Fußballspielen im Verein darauf gekommen zu wetten. So habe ich im Monat 4000 bis 5000 Schilling dazuverdient", erzählt Stefan. So ging das bis zu seinem 22. Lebensjahr. Immer wieder legte sich Stefan von seinem Lehrlingsgehalt und dem Wettgewinn etwas Geld zur Seite, bis er eine eigene Baufirma gründen konnte.
Danach ging alles Schlag auf Schlag. Die Firma lief gut und die Aufträge trudelten nur so herein. Nach einem Jahr lernte Stefan jemanden aus dem Rotlichtmilieu kennen. "Der nahm mich dann mit in ein Lokal für geschlossene Gesellschaften. Da war nur die gehobene Schicht drinnen. Promis, Musiker und Top-Anwälte. Dort nahm ich das erste Mal Kokain und hab’ auch das erste Mal Geld in einen Automaten geworfen." 100 Euro hat Stefan damals in den Spielautomaten gesteckt, 1500 Euro hat er gewonnen.
Dieses Automatenspielen ist häufig der Einstieg für Spielsüchtige. Nach dem ersten Gewinn haben sie Blut geleckt und wollen von da an immer wieder gewinnen. "Die Automaten sind eine lauernde Gefahr", sagt Reinhard Pichler, Psychotherapeut und Krankenhausleiter der Barmherzigen Brüder. Ein Grund dafür ist, dass diese Geräte nicht bloß in Casinos oder Wettbüros aufgestellt werden, sondern auch in Cafés und Kneipen. "Spielsüchtige können in diesem Fall der Versuchung zu spielen nicht widerstehen. "
"Es war wie im Film"
Durch die Selbstständigkeit kam Stefan mit vielen Menschen in Kontakt. Weil er auch Bordelle renovierte, lernte er Personen aus dem Milieu kennen, darunter Kartenspieler. Stefan fühlte sich schnell wohl und verbrachte bald fast seine gesamte Freizeit in dieser Gesellschaft. "In der Früh bin ich in die Firma gefahren, hab’ die Arbeiter eingeteilt und dann bin ich spielen gefahren", erzählt er. Gespielt wurde im Hinterzimmer des Lokals. Beliebt waren Poker, Stoß, Tarock oder sogenannte "Häfnspiele" wie Zensern.
Dabei lief alles nach einem bestimmten Schema ab: Stefan und zwei weitere Kartenspieler haben zusammen eine fremde Person ausgenommen. Manchmal war es ein Familienvater. Den Spielern war das jedoch egal. Hauptsache Geld gewinnen.
Mit dem gewonnenen Geld ging Stefan weiter ins Wettbüro. Dort spielte er so lange, bis alles weg war. Wenn er doch einmal gewonnen hatte, rief er einen seiner Freunde an und sie fuhren für ein paar Tage weg. Seiner Freundin erzählte Stefan, er sei auf Geschäftsreise. "Es war schon eine aufregende Zeit. Wir haben viel Blödsinn gemacht. So wie im Film ,Blow’, nur nicht ganz so ausschweifend." Stefan lacht. "Partys, Frauen, Geld. Ich war halt ein richtiger Lebemensch."
Zu dieser Zeit befand sich Stefan auf einer Art Höhenflug, doch es gab auch Abstürze: "An einem Tag warst du 20.000, 30.000 Euro im Plus, am nächsten Tag hattest du 100.000 Euro Schulden, die aber am Tag darauf beglichen werden mussten." So lautet der Ehrenkodex. Einmal bat Stefan um einen Aufschub. Die Konsequenz: Er wurde mit einer Pistole bedroht. "Wenn du das Geld nicht auftreiben konntest, hast du es bei den Saugerln, wie sie im Milieu genannt werden, gegen hohe Zinsen ausborgen können. Die verdienen halt wirklich das Geld. Wenn du bei denen nicht zahlst, hast eine Kugel im Knie. Die haben ihre zehn Leute, die das Geld eintreiben. Diese Typen haben nichts mehr zu verlieren und machen alles. Die sind ein paar Monate draußen aus dem Gefängnis - und gehen dann wieder einsitzen."
Sechs Jahre lang führte Stefan ein Doppelleben. Er spielte täglich. Außer an Wochenenden. Die waren für seine Freundin reserviert. Doch alles hat ein Ende. Irgendwann war das Geld weg. Das war der Zeitpunkt, an dem er mit den Betrügereien in der Firma anfing. Er meldete beschäftigte Mitarbeiter ohne deren Wissen ab und nahm Anzahlungen von Aufträgen auf, die er später nicht durchführte. Seine Familie und Freunde hat er belogen und bestohlen. Das Vorstrafenregister wurde immer länger.
Betrug und Gefängnis
Nach einem Bankbetrug musste Stefan für zehn Monate ins Gefängnis. "Ich dachte, das therapiert mich, und dass ich geheilt wieder herauskomm’. Ich hab’ echt geglaubt, dass ich das Spielen in den Griff bekomme." Doch dem war nicht so. Bereits nach wenigen Wochen verdiente Stefan wieder gutes Geld, ungefähr 10.000 Euro im Monat. Allerdings nicht nur auf legalem Wege. Über seine Firma nahm er wieder Kontakt zum Milieu auf.
In dieser Zeit kam eine weitere Straftat hinzu: Menschenhandel. Stefan schmuggelte Frauen über die Grenze. Er ist, wie viele andere suchtkranke Menschen, in eine Abwärtsspirale geraten, aus der er aus eigener Kraft nicht mehr herauskam. Das Lügen und Verheimlichen gehörte zu Stefans Leben. "Das war allerdings mit viel Arbeit verbunden. Auf jede Lüge folgte eine andere". Durch das viele verdiente Geld kam Stefan erneut in den alten Trott hinein. Er begann wieder zu spielen. "Ich bin ein Spieler - durch und durch. Als Spieler geht’s dir gut, solange du spielst." Manchmal spielte Stefan bloß eine Stunde, manchmal wurden 24 daraus. "Auf Koks habe ich einmal 27.000 Euro verspielt."
Mit dem Koksen hat Stefan aufgehört. Mit dem Spielen kann und will er nicht aufhören. "Ich brauche das für mein Spielerherz. Manchmal wette ich oder spiele Karten, aber nur mit kleinen Beträgen. Einen Einsatz muss es aber geben, sonst ist das Spiel nichts wert." Laut Reinhard Pichler ist das eindeutig ein Zeichen dafür, dass Stefan nach wie vor abhängig ist. "Er macht sich etwas damit vor, wenn er glaubt, das Spielen im Griff zu haben, und nimmt die Gefahr nicht wahr. Spielsüchtige sind immer psychisch abhängig. Das ist viel schwieriger zu therapieren als eine physische Abhängigkeit."
Am Wendepunkt
Stefans Freundin hat das alles irgendwann nicht mehr ausgehalten und sich von ihm getrennt. "Die Situation für die Angehörigen ist katastrophal", sagt der Psychotherapeut Pichler, "sie sind ständig verschuldet und haben Geldprobleme." Nach der Trennung zog Stefan zu seinen Eltern. Stefans Mutter geriet in eine Co-Abhängigkeit, indem sie ihrem Sohn immer wieder Geld borgte und das aufgebaute Lügengerüst unterstützte. Sie wollte ihren Sohn beschützen. Das stürzte sie selbst in die Kriminalität und in die Arbeitslosigkeit. Stefans Mutter war Buchhalterin in einem österreichischen Unternehmen. Eines Tages überwies sie einige Tausend Euro vom Firmenkonto auf ihr privates, um die Schulden ihres Sohnes bezahlen zu können. Doch das Geld hat nie gereicht.
Als Stefan dann einige Wertgegenstände aus der elterlichen Wohnung stahl und deren neues Auto verkaufte, um mit dem Geld spielen zu können, warf ihn sein Vater aus der Wohnung. Stefan landete im Betreuungszentrum "Gruft" - obdachlos und alleine. Das war der Wendepunkt. "Ich musste ganz unten landen, damit ich begreife, dass ich eine Therapie brauche."
Die stationäre Therapie hat Stefan abgebrochen. Er ist nur mehr ambulant in Behandlung. Das schlechte Gewissen plagte ihn zu sehr. "Mir persönlich geht’s eh gut. Ich hab’ ja kein Problem. Was ich aber meiner Familie angetan hab’ und dass es ihr wegen mir nicht gut geht, kann ich mir nicht verzeihen." Seit einigen Tagen hat Stefan einen Posten als Portier in einem Studentenheim angenommen. "Das bekomme ich schon hin. Jetzt brauch’ ich eine eigene Wohnung, dann wird’s schon."
Einmal in der Woche geht Stefan in Therapie. Einmal pro Woche ins Wettbüro. Zumindest das hält sich die Waage.
Justyna Osinska, geboren 1985 in Breslau/Polen, studierte Transkulturelle Kommunikation an der Universität Wien. Derzeit Studium von Übersetzen und Dolmetschen sowie Publizistik und Kommunikationswissenschaft in Wien.
Selbsthilfegruppe Anonyme SpielerWebsite Netdoktor: Wegweiser Selbsthilfegruppen Spielsucht in ganz Österreich