Zum Hauptinhalt springen

Der Traum vom ungezügelten Markt

Von Siobhán Geets

Politik

Was wollen die Tories nach dem Brexit aus dem Vereinigten Königreich machen? Von Steueroasen, Niedriglöhnen und ungezähmtem Freihandel.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 5 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Boris Johnsons Kritiker sehen schwarz für das Vereinigte Königreich. Die konservativen Tories wollen nach dem Brexit ein marktradikales Wirtschaftssystem nach dem Vorbild der USA schaffen, warnt etwa die Labour-Partei, mit Niedriglöhnen und laxen Standards im Umweltschutz und bei Arbeitnehmerrechten. Der EU hat Premier Johnson garantiert, dass die Standards nach dem Brexit nicht gesenkt werden, doch die Opposition glaubt ihm kein Wort.

Freihandel mit dem Rest der Welt

Neue Handelsverträge mit dem Rest der Welt abzuschließen ist das Hauptversprechen der Tories. Deshalb ist Theresa Mays Austrittsabkommen im britischen Unterhaus auch drei Mal durchgefallen: Es sah einen vorläufigen Verbleib des gesamten Vereinigten Königreichs in der Zollunion der EU vor - ein Szenario, in dem London keine Handelsverträge mit Drittstaaten hätte abschließen dürfen.

Die Brexiteers in der "European Reserch Group" haben eine klare Idee davon, wie sich das Land nach dem Brexit wirtschaftlich positionieren soll. Sie wollen sich aus den Fesseln der EU mit ihren vermeintlich protektionistischen Handelshemmnissen befreien und ein marktradikales Gegenmodell schaffen. Die EU ist der ERG schlicht nicht neoliberal genug. Die Gruppe von 80 Hardlinern ist so etwas wie eine Partei innerhalb der Partei und hat Johnson von Anfang an unterstützt. Das merkt man auch am Austrittsabkommen, das der Premier mit der EU vereinbart hat.

Im alten Abkommen von Theresa May war eine enge Bindung an die EU vorgesehen. In Johnsons Deal sind die künftigen Beziehungen weniger ambitioniert. Im Freihandelsabkommen geht es nur noch um Waren, von Dienstleitungen ist keine Rede mehr. "Deshalb will Labour den Deal ändern", sagt Christian Kesberg, Wirtschaftsdelegierter der WKO in London. "Die Oppositionspartei will den Arbeitnehmerschutz und andere EU-Regeln darin verankern."

Sozial- und Umweltstandards

Zwar ist auch im neuen Austrittsabkommen die Rede davon, sich weiter an die Wettbewerbsregeln der EU zu halten. In den künftigen Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich müsse der faire Wettbewerb ("Level Playing Field") aufrechterhalten werden, Sozial- und Umweltstandards sowie Arbeitnehmerrechte sollten weiterhin gelten. Nur: Die politische Deklaration ist nicht bindend, am Ende kann die britische Regierung machen, was sie will.

Deshalb hält das Austrittsabkommen fest, dass die EU den Briten beim künftigen Freihandelsabkommen nur entgegenkommt, wenn sich London nach dem Brexit auch an die Standards hält. "Je mehr Marktzugang ein Land will, desto mehr muss es sich an den Regeln des anderen orientieren", sagt Kesberg. Laut dem Wirtschaftsexperten müsse man die Neuwahlen im Vereinigten Königreich abwarten - ohnehin nur eine Frage der Zeit, denn Johnson hat seine Mehrheit im Unterhaus längst verloren. In welche Richtung sich das Land entwickelt, lasse sich erst danach abschätzen. "Es ist der Traum der Tory-Hardliner, das Paradies des Kapitalismus zu errichten", sagt Kesberg. "Wenn die Tories die Mehrheit bekommen, werden sie ihre Ideen durchsetzen."

Immerhin war die Freiheit, außerhalb der EU mit Deregulierungen maximalen Profit zu machen, der Grund, warum die Brexiteers die Staatengemeinschaft verlassen wollen.

Steuerparadies an der Themse

Einige Beobachter glauben, dass die Briten ökonomisch nur dann vom EU-Austritt profitieren, wenn Großbritannien zum Steuerparadies wird. Die Brexiteers wünschen sich ein "Singapur an der Themse": niedrige Steuern, kaum Regulierung und geringe Arbeitnehmerrechte. Dabei ist Singapur natürlich nicht mit dem Vereinigten Königreich vergleichbar: In dem Stadtstaat mit gerade einmal 5,6 Millionen Einwohnern hat eine einzige Partei das Sagen, Billigarbeitskräfte aus China arbeiten zu Niedriglöhnen.

Einen niedrigen Körperschaftssteuersatz haben die Briten indes heute schon. "Wenn sie noch weiter runtergehen als 18 Prozent könnte das profitabel sein", sagt Kesberg.

Die Frage ist nur: Für wen? Experten warnen davor, dass das "Singapur-Modell" mit seinen Niedriglöhnen und der Deregulierung der Gesellschaft schaden würde. Jene Probleme, die mit zum Brexit geführt haben, würden dadurch weiter verschärft.