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Der Traum von der großen Seele

Von Veronika Eschbacher

Politik

Die russische Politologin Lilija Schewtsowa über Wladimir Putins Schaukeln zwischen eurasischem Traum und | russischem Nationalismus und die Reste des Homo sovieticus im postsowjetischen Russland.


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"Wiener Zeitung": Hat Russland mit der Einverleibung der Krim mehr geschluckt, als es verdauen kann?Lilija Schewtsowa: Der russische Präsident Wladimir Putin hat wohl nicht die gesamten Folgen des Krim-Abenteuers vorhergesehen. Bereits jetzt ist klar, dass nur die unmittelbar notwendigen Ausgaben für die Krim 4,5 Milliarden US-Dollar übersteigen. Aber laut Berechnungen von Ökonomen könnten dem Staat mehr als 50 Milliarden Dollar an Ausgaben für die nächsten beiden Jahre ins Haus stehen. Das ist praktisch gleich viel, wie die Olympiade in Sotschi gekostet hat. Wenn man bedenkt, dass die Goldreserven Russlands heute nicht mehr als 400 Milliarden Dollar betragen und dass die Auslandsschulden von russischen Staats- und Privatfirmen heute mehr als 730 Milliarden Dollar ausmachen, sind 50 Milliarden für die Krim kein kleiner Brocken. Aber neben den wirtschaftlichen Folgen gibt es auch noch geopolitische: Die Annexion der Krim begründet eine völlig neue Situation in Europa, eine Situation voll von Sicherheitsproblemen, und ändert die Welt in eine Richtung, von der Putin selbst noch nicht weiß, wie er in dieser überleben soll.

In seiner TV-Show "Direkter Draht" hat Putin dargelegt, wie er den Russen heute sieht. Oder genauer gesagt: den "Menschen der Russischen Welt". Was lernen wir aus seinen Ausführungen?

Es zeigt uns, dass er versucht, ein neues Modell der Konsolidierung der russischen Gesellschaft zu finden. Zuvor, in den vergangenen zwei Jahren, hatte er den Akzent etwas anders gelegt: Russland ist das Zentrum Eurasiens. Das heißt, Russland ist das Zentrum der Galaxie, in dessen Orbit die Satelliten-Staaten funktionieren und sich bewegen. Die "Russische Welt" ist de facto eine andere Idee, die eines ethnokratischen russischen Staates, die zu einem gewissen Grad die Ideen fortführt, die in den 1930er Jahren in Deutschland ausgedrückt wurden. Sie bedeutet auch die Verteidigung der Russischsprachigen, etwa in Kasachstan, der Ukraine oder Weißrussland. Dieses Konzept unterminiert eigentlich die eurasische Idee. Momentan jongliert Putin mit beiden Konzepten und muss eine gewisse Balance herstellen zwischen der eurasischen - also der imperialistischen Idee - und der ethnischen Idee der Russischen Welt.

Hier gibt es noch eine weitere interessante Nuance: Putin privatisiert heute die Idee des russischen Nationalismus. Dabei war der Nationalismus-Flügel in Russland eigentlich immer gegen Putin und gegen den Kreml. Indem er Russen auf der Krim und in der Ukraine verteidigt, versuchte er, die Nationalisten im eigenen Land auf seine Seite zu bekommen. Das gelang ihm bereits.

Putin sprach davon, dass der Mensch der Russischen Welt eine besondere, höhere Aufgabe hätte - und sich für das Gemeinwohl der Gesellschaft interessiere. Ist das nicht eher ein Ideal als Realität?

Von der heutigen Realität hat er offenbar wenig Ahnung. Immer wieder bringt er einen idealen russischen Charakter ins Spiel, der ein Mensch mit großer Seele sei, ein Mensch des Kollektivismus, der gegenseitigen Hilfe. Aber gleichzeitig entwickelte sich unter seiner Führung die russische Gesellschaft ganz anders. Sie atomisiert sich, die Feindseligkeit untereinander wächst, man hilft sich gegenseitig weniger. Die Menschen entsittlichen. Das Land hat über die letzten Jahre noch nie eine derart demoralisierte Gesellschaft gesehen wie jetzt. Die Führung macht aus Russland eine Hobbes’sche Welt, eine feindselige Welt, eine Welt der tierischen Instinkte.

Wie viel vom Homo sovieticus steckt noch im heutigen Russen?

Der hat sich gut gehalten, in gut einem Drittel der Bevölkerung. Sie sind Homo sovieticus in dem Sinn, dass sie dem Staat völlig ergeben sind und das auch so wollen. Sie sind dazu bereit, die Sklaven des Staates zu sein, im Austausch dafür, dass der Staat bestimmte, begrenzte Bedürfnisse erfüllt. Den Homo sovieticus gibt es auch noch in der Ost- und Südukraine. Gegen Kiew und Europa hat sich der Homo sovieticus erhoben. Aber das sind glücklose Leute, die für sich keine Lebensperspektive entdecken konnten. Sie haben aber auch keine Alternativen bekommen.

In der Ukraine beobachten wir das massive Niederreißen von Lenin-Statuen. In Moskau wird gerade diskutiert, ob der "Eiserne Felix", Symbol des bolschewistischen Terrors, wieder auf die Lubjanka im Zentrum Moskaus zurückkehren soll.

Die Ukraine hat - für viele unerwartet - sich viel weiter bewegt in ihren Bemühungen, aus dem alten sowjetischen Korsett auszubrechen. Das geht nicht ohne die Zerstörung der alten Symbole. Früher oder später wird auch in Russland so ein Prozess beginnen. Aber momentan sind wir eher auf dem Weg zurück zu einem viel engeren Korsett. Wie lange Russland diesen Weg beschreiten wird, wissen wir noch nicht.

Der russische Schriftsteller Vladimir Sorokin hat kürzlich in einem Artikel geschrieben, dass vielmehr das Problem die vertikale Machtstruktur in Russland ist als ein schrecklicher Putin selbst. Mit einer monarchischen Struktur wie dieser würden Leidenschaften wie Ängste eines Führers zur "state policy".

Russland war schon immer ein absolutistisches Land, ein Land der Autokratie, der personalisierten Macht. So eine Alleinherrschaft dringt in alle Poren ein, sie kontrolliert den Menschen viel mehr als jede andere Form der Autokratie. Wir wissen bis heute nicht, ob Russland ohne Autokratie leben kann. 13 Prozent der Russen, das sind etwas mehr als 15 Millionen Bürger, sind nicht mit dem Vorgehen in der Ukraine einverstanden. Das sind nicht wenige, und die Frage ist, ob und wann diese 13 Prozent eine Alternative zur Autokratie schaffen können. Normalerweise funktioniert so etwas, wenn die Ressourcen der Führung erschöpft sind. Putin beschleunigt diesen Prozess in Russland gerade. Vielleicht stürzt das System schneller als in zehn Jahren.

Zur Person

Lilija

Schewtsowa

ist Senior Associate des Think Tank Carnegie Endowment for International Peace in Washington und Moskau und beschäftigt sich vor allem mit russischer Innenpolitik. Die Politologin und Autorin von mehr als 15 Büchern sprach diese Woche auf Einladung des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (WIIW) in Wien bei einer Konferenz zu zehn Jahren EU-Osterweiterung.