Wer eine neue Sprache erlernt, eignet sich auch eine neue Denkweise an. | Wahrnehmung und Sprache sind untrennbar miteinander verbunden. | Wien. Blu, Azurro und Celeste: Im Italienischen gibt es drei unterschiedliche Wörter für die Grundfarbe Blau. Dunkelblau wird aus dem althochdeutschen "blao" abgeleitet. Azurro - vom französischen "azur" kommend - beschreibt hingegen Hellblau: Für die alten Römer war der Himmel nämlich nicht "blau", sondern "hell".
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 14 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Bleibt noch Celeste. Diese Farbe beschreibt einen sehr hellen Himmel - etwa bei Mittagssonne. Die Farbe wird aber auch mit den Sternen und mit Göttlichkeit in Verbindung gebracht: "Volta Celeste" ist der Sternenhimmel. Im Englischen dagegen sind sowohl der Himmel als auch das Meer "blue". Und im Deutschen existieren Schattierungen von Blau: Der Mittagshimmel ist himmelblau, der Sternenhimmel nachtblau und eine samtene Robe vielleicht dunkelblau.
Sprache und Wahrnehmung sind untrennbar verbunden. Ob Italiener, Engländer oder Österreicher - alle nehmen sie die Welt über die Begriffe wahr, die ihnen ihre Muttersprache zur Verfügung stellt. Ob die Sicht auf die Welt durch die Brille der eigenen Sprache auch automatisch ein eigenes Weltbild erzeugt, beschäftigt nicht nur Sprachwissenschafter. "Das Denken ist ein Resultat der Wahrnehmung. Wenn mir, wie den Isländern, viele Begriffe für Schnee zur Verfügung stehen, ist meine Fähigkeit, verschiedene Sorten von Schnee blitzartig wahrzunehmen, sehr ausgeprägt", sagt Peter Schütz, Psychologe und Gründer des Österreichischen Trainingszentrums für Neurolinguistisches Programmieren in Wien. Also können auch Italiener schneller zwischen unterschiedlichen Farbtönen unterscheiden als Engländer.
Kinder erkennen als Erstes,was sie benennen können
Menschen nehmen in erster Linie wahr, worüber sie sprechen können. Ein Kind, das scheinbar aus heiterem Himmel "Traktor!" sagt, tut das, weil es für den Traktor einen Begriff hat. Es erkennt den Traktor unter all den Dingen, die es sieht und noch nicht benennen kann. Selektive Wahrnehmung durch Sprache also. Wie sich der Mensch sein Umfeld durch Sprache erobert, hängt auch davon ab, in welchem Sprach- und Kulturraum er zu Hause ist.
Das im Amazonasbecken in Brasilien lebende Indianervolk der Pirahã etwa besitzt keine Wörter für Farben. Auch keine für Zahlen und keine für gestern und heute. Die Pirahã denken nicht über ihre Ahnen nach, deshalb haben sie kein Wort für Urgroßvater. Dieses Volk, wie der US-Linguist Daniel Everett es in seinem kürzlich erschienenen Buch "Das glücklichste Volk" beschreibt, schafft keine Kunstwerke. Es kennt keine Märchen und keine Erzählungen vom Anfang der Dinge. Dabei, betont Everett, seien die Pirahã alles andere als dumm. Nur leben sie einzig im Konkreten: Das Erfahren des Augenblicks kümmere sie - für alles darüber hinaus hätten sie keine Worte. Sie reden nie über etwas, was sie nicht selbst sehen oder selbst gesehen haben. Everett, der das Volk seit mehr als 20 Jahren studiert und seine Sprache beherrscht, nennt die Art, wie die Pirahã ihr Dasein gestalten, das "Prinzip der Unmittelbaren Erfahrung". Was diesem Prinzip zuwiderläuft, wird abgelehnt - und damit der Gedankenkosmos der modernen Welt. Auch die Grammatik dieses Volkes ist sehr direkt und kennt keine Nebensätze. Diese würden dem Prinzip der Unmittelbarkeit widersprechen.
Ganz anders verhält es sich im Russischen, das sich komplizierter Schachtelsätze bedient. Man verändert weiters das Verb, um Tempus und Geschlecht anzuzeigen. Zudem muss das Verb Informationen über den Abschluss einer Handlung enthalten: Wenn jemand ein Buch nur zum Teil gelesen hat, benutzt er eine andere Verbform als wenn er das Werk vom ersten bis zum letzten Satz studiert hat. Russisch enthält weiters eine farbenreiche Palette an Vokabeln für Gefühle - von differenzierten Zärtlichkeitsformen bis hin zu geschliffenen Danksagungen: Kaum eine Runde Vodka geht über den Tisch, ohne dass jemand einen ausgefeilten Toast zum Besten gibt. Hier prägt also die sprachliche Struktur das gesellschaftliche Miteinander genau so wie sich die kollektive Realität in der Sprache wiederfindet.
Komplexe Sprache alsHinweis auf komplexe Kultur?
Je komplexer die Sprache, desto komplexer die Kultur? Auf jeden Fall werden Sprachen aus unterschiedlichen Bedürfnissen geboren. Oder, wie Peter Schütz es formuliert: "Es macht einen Unterschied für die Entwicklung einer Sprache, ob ein Volk im Urwald überleben oder ob es sich über die Metakommunikation der Inferenz des Gottesbegriffs austauschen muss." Eine Kernfrage ist auch, wie wir Worte mit Gefühlen verknüpfen: "Welche Wörter wir wie verwenden, ist unter anderem ein Resultat davon, wie wir unsere Gedanken sortieren", sagt Schütz. Wenn wir etwa ein Gefühl nicht genau benennen können, ist es weniger leicht, diesem Gefühl eine Handlung folgen zu lassen. Ist das Gefühl genau definierbar, ist auch die Reaktion konkreter.
Prägt die Sprache unser Denken? Oder prägt das Denken unsere Sprache? Schütz sieht eine wechselseitige Wirkung: "Wenn ich anders denken will, muss ich eine andere Sprache benützen", sagt er. Das reicht von der Diktion der Nazi-Diktatur bis hin zur politisch korrekten Verwendung von Sprache, die etwas völlig anderes bewirken soll, aber ebenfalls das Denken gestalten kann.
In der Linguistik besagt die Sapir-Whorf-Hypothese, dass die Art und Weise, wie ein Mensch denkt, stark durch Grammatik und Wortschatz seiner Muttersprache beeinflusst wird. Daraus folgt, dass es bestimmte Gedanken einer einzelnen Person in einer Sprache gibt, die von jemandem, der eine andere Sprache spricht, nicht verstanden werden können.
Um diese Kluft zwischen den Sprachen überbrücken zu können, gibt es neben Worten jedoch noch andere Wege, um sich mitzuteilen: Auch Laute, Gesang, Mimik oder Gesten können Sprache sein. Sprachwissenschafter Everett etwa ist der Ansicht, die von ihm studierten Pirahã seien geistig in der Lage zu zählen, obwohl sie keine Wörter für Zahlen haben. Er verweist zudem auf ein Repertoire von Gesängen in der Sprache des Amazonas-Volkes.
Sprecher unterschiedlicher Sprachen müssen auf unterschiedliche Aspekte der Welt achten und sie unterschiedlich codieren, spekulieren dagegen die Vertreter der Ansicht, dass Aufmerksamkeit, Auseinandersetzung und die Erinnerung an Erlebnisse für Sprecher des Englischen, Türkischen oder Russischen anders aussehen, nur weil sie sich unterschiedlicher Sprachen bedienen. Andere Experten halten dagegen, dass sprachliche Äußerungen nur einen kleinen Teil der Information codieren, die uns zur Verfügung stehen. Nur weil wir andere Worte benutzen, heißt das nicht, dass wir nicht das Gleiche denken können. Demnach wäre es möglich, dass alle die gleichen Dinge wahrnehmen - und nur unterschiedlich darüber sprechen.
Lera Boroditsky, Assistenzprofessorin für Psychologie, Neurowissenschaften und Symbolsysteme an der Stanford University, will nun aber experimentell bewiesen haben, dass Sprachen unser Denken prägen und nicht umgekehrt. Sie konzentriert sich auf räumliche Wahrnehmung, auf deren Grundlage Menschen ihre Repräsentationen von Zeit, Zahlen, musikalischen Tonhöhen, Verwandtschaftsbeziehungen, Ethik und Gefühlen aufbauen.
Räumliche Vorstellungals Grundlage
Boroditsky besuchte das Volk der Kuuk Thaayorre in einer Aborigines-Gemeinde an der Westküste Australiens. Um über räumliche Verhältnisse zu sprechen, benutzen sie nicht Wörter wie rechts, links, vorwärts oder rückwärts, sondern Richtungsbegriffe wie nördlich, südlich, westlich und östlich. So sagen sie: "Schieb die Tasse weiter nach Nordosten" anstatt "nach links". Der Sprachgebrauch setzt voraus, dass sie ständig wissen, wo Norden gerade ist.
Die Folge seien tiefgreifende Unterschiede im räumlichen Vorstellungsvermögen. Diese Fähigkeiten können die Kuuk Thaayorre auch im Alltag nutzen. Sich im fremden Gelände zu verirren, kennen sie demnach nicht. "Was sie dazu in die Lage versetzt, ist ihre Sprache", so Boroditsky. Denn: "Wenn sie ihre Aufmerksamkeit auf diese Weise geschärft haben, bringen sie Voraussetzungen für diese Orientierungsleistungen mit." Sprecher von Sprachen wie dem Englischen, die mit einem relativen Bezugsrahmen referenzieren, entwickeln diese Fähigkeit nicht, da sie sie in ihrer Sprache nicht verwenden.
Sind die Unterschiede im Denken tatsächlich auf die Sprache zurückzuführen, oder haben sie ihre Ursache auch in anderen Aspekten der Kultur? Um das herauszufinden, brachte Boroditsky ihren Probanden neue Redeweisen bei: Etwa lernten Sprecher des Englischen, auf unterschiedliche Weisen über Zeit zu sprechen - etwa so wie Sprecher von Mandarin. Nachdem sie es gelernt hatten, ähnelte ihre Kognitionsleistung immer stärker jener von Sprechern dieser Sprachen. "In der Praxis heißt das: Wenn wir eine neue Sprache erlernen, erlernen wir nicht nur eine neue Art zu sprechen, sondern wir machen uns auch eine neue Denkweise zu eigen", so Boroditsky.
Siehe auch:Kommentar: Vom Vergessen für die Sprache