Zum Hauptinhalt springen

Der türkische Vormarsch nach Europa hat an Schwung verloren

Von Susanne Güsten

Politik

Istanbul - Als Präsident und Ministerpräsident der Türkei in dieser Woche im Nationalen Sicherheitsrat aneinander gerieten und damit eine beispiellose Krise in Politik und Wirtschaft auslösten, war es wieder einmal der EU-Beitrittsprozess des Landes, der dabei auf der Strecke blieb. Der Sicherheitsrat hätte das so genannte "Nationale Programm" der Türkei für den EU-Beitrittsprozess beraten und für eine Verabschiedung im Kabinett freigeben sollen - doch das Gremium kam nicht einmal bis zur Tagesordnung, bevor die Teilnehmer Türen knallend den Saal verließen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 24 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Nun soll die Sitzung zwar voraussichtlich nächste Woche nachgeholt werden, doch die jüngste Verzögerung wird in westlichen Beobachterkreisen in Ankara als fast schon symbolisch dafür bewertet, wie stockend sich der türkische Zug nach Europa bewegt - und bisweilen sogar rückwärts zu rollen scheint. Hatte die Anerkennung der Türkei als Beitrittskandidat am EU-Gipfel im Dezember 1999 in Helsinki noch Schwung und Optimismus in Ankara erzeugt, so ist davon heute nicht mehr viel zu spüren - eher im Gegenteil.

Selbst wenn das Nationale Programm nächste Woche vom Sicherheitsrat gebilligt werden sollte, wird der Beitrittsprozess damit noch nicht auf jene Schiene gesetzt, die EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen sich ursprünglich erhofft hatte. Denn in dem Entwurf des Papiers, in dem Ankara seinen Zeitplan zur Umsetzung der von Brüssel geforderten Reformen darlegen soll, werden entscheidende Reformen gar nicht berücksichtigt.

Türkischen Presseberichten zufolge soll etwa die innerhalb der Regierungskoalition umstrittene Reformforderung nach Zulassung kurdischsprachiger Fernsehsendungen im Nationalen Programm einfach ignoriert werden; auch auf die Abschaffung der Todesstrafe will man sich demnach noch nicht verbindlich festlegen.

Beides hatte Brüssel aber in seiner Beitrittspartnerschaft für die Türkei unmissverständlich zur Beitrittsbedingung gemacht. Die Zulassung kurdischsprachiger Medien sollte demnach bis Ende dieses Jahres verwirklicht sein, die Abschaffung der Todesstrafe bis zum Jahr 2004. Davon will Brüssel auch keine Abstriche machen. Die EU werde sich nicht verändern, um es der Türkei recht zu machen, betonte Verheugen erst letzte Woche. Schließlich wolle die Türkei der EU beitreten und nicht umgekehrt.

Nicht nur auf dem Papier macht die Türkei derzeit eine schlechte Figur als Beitrittskandidat. Insbesondere im kurdisch besiedelten Südosten des Landes, in den nach dem Ende des PKK-Krieges vor knapp zwei Jahren Ruhe eingekehrt war, sind eher Rückschritte als Fortschritte zu verzeichnen. Die versprochenen Investitionen in die wirtschaftliche und soziale Struktur des unterentwickelten Gebiets lassen weiter auf sich warten. Dafür macht die Staatsgewalt dort wieder mit alten Unsitten von sich reden.

Die Fälle von Folter durch Sicherheitsbehörden im Südosten haben sich nach Beobachtungen eines Menschenrechtsverbandes allein im vergangenen Monat verdoppelt.

Und das unerklärte Verschwinden von zwei Lokalpolitikern der legalen Kurdenpartei Hadep nach einem Termin bei der örtlichen Gendarmerie lässt nicht nur Aktivisten befürchten, dass es mit dem Frieden im Land nicht weit her ist. Auf der Suche nach den beiden Politikern, in die sich inzwischen sogar die UNO mit der Forderung nach Aufklärung eingeschaltet hat, tauchten jedenfalls mehrere Leichen weniger prominenter Menschen auf, die ebenfalls unter ungeklärten Umständen verschwunden waren.

"Die gegenwärtige Menschenrechtssituation, die Qualität der Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit (in der Türkei) entsprechen noch nicht unseren Wünschen", stellte auch Verheugen jetzt fest.

Daran dürfte sich in nächster Zeit kaum etwas ändern. Der Drang nach Europa hat in Ankara spürbar nachgelassen. Nach dem Eklat im Sicherheitsrat dürfte die türkische Politik auch in den nächsten Wochen und Monaten wieder viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt sein, als dass sie große Fortschritte auf dem Weg nach Europa machen könnte.