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Der ungebetene Weihnachtssäufer

Von Roland Knauer

Wissen

Misteln begleiteten schon das germanische Wintersonnwendfest. | Normalerweise stiehlt die Pflanze ihrem Baum nur wenig Wasser. | Berlin. Die kleinen runden "Büsche" stechen beim Blick in die winterlich-kahlen Baumwipfel sofort ins Auge. Wohl deshalb gehören Misteln vermutlich schon viel länger zu den Bräuchen an den kürzesten Tagen des Jahres als der Christbaum. Geschmückte Nadelbäume standen jedenfalls erst ab etwa 1800 in den Weihnachtsstuben des gehobenen Bürgertums Mitteleuropas, während bereits die altgermanischen Feiern zur Wintersonnenwende vor mehr als zweitausend Jahren nicht ohne Mistelzweige auskamen. Die wenigen immergrünen Pflanzen Mitteleuropas waren schon damals Symbol für die Rückkehr des grünen Laubs im Frühjahr. Da sich die Mistel Viscum album im Dezember mit kleinen, weiß-gelblichen Beeren schmückt, ist das Symbol perfekt, dass Pflanzen nicht nur den Winter "überleben", sondern sich auch vermehren.


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Da die Götter die Mistelsamen in die Bäume streuen, sind diese Pflanzen Geschenke des Himmels, glaubten die Germanen. In vielen Regionen Mitteleuropas gelten Misteln noch heute als Symbole der Fruchtbarkeit, seit dem 18. Jahrhundert hat sich das "Küssen unter Mistelzweigen" von England über den Globus ausgebreitet und verspricht frisch Verliebten eine stabile Beziehung. Selbst in den Comics um den Gallier Asterix spielt die Mistel eine zentrale Rolle: Der Druide Miraculix schneidet darin die immergrünen Pflanzen mit einer goldenen Sichel von Eichen und braut aus ihnen einen Zaubertrank. Dieser verleiht den Menschen die unglaublichen Kräfte, mit denen sie das letzte freie gallische Dorf gegen die Vorherrschaft der Römer verteidigen.

Größere Mengen kann Miraculix kaum hergestellt haben. "Denn auf Eichen wachsen Misteln nur selten", sagt Michael Burkart, Kustos des Botanischen Gartens der Universität Potsdam. "Viel häufiger finden sich diese auch im Winter grünen Gewächse auf Pappeln, Linden oder Apfelbäumen."

Heute übernehmen einige Vogelarten, wie etwa die Misteldrossel, den Job des Samenausstreuens. Die Mistelbeeren enthalten einen klebrigen Saft, aus dem früher der sogenannte "Vogelleim" hergestellt wurde, mit dem Vögel gefangen wurden. Vermutlich ist der Mistel dabei auch so manche Drossel auf den Leim gegangen, nachdem sie ihr Fruchtfleisch gefressen hatte. Nach der Mistel-Mahlzeit streifen die Vögel den Samen an einem Ast ab. Vom Leim festgehalten keimt der Samen bald, in der Erde hätte er hingegen keine Chance. Manche Forscher meinen freilich, dass Vögel die Mistelfrüchte schlucken und den Samen später auf Zweigen wieder ausscheiden.

Halbparasit wird 400 Jahre alt

Die nächsten Schritte sind gut bekannt. Zunächst schiebt sich ein kurzer Stängel aus dem Samen, der sich mit einer Haftscheibe dauerhaft am Ast verankert. Dann wächst ein sogenannter Saugfortsatz oder "Haustorium" in das Holz des Baums hinein, der später als Wurzel die Leitungsbahnen des Gewächses anzapft. Über diese Leitungen versorgt der Baum seine Blätter mit Wasser und Mineralien, die er mit seinen Wurzeln aus dem Boden holt. Die Mistel aber hat keine Wurzeln im Boden und bedient sich daher bei ihrem unfreiwilligen Wirt. Aus dem Kohlendioxid der Luft stellt sie dann mit Hilfe des Sonnenlichtes und dem abgezapften Wasser-Mineralien-Mix alle Kohlenstoff-Verbindungen her, die sie in ihren bis zu 400 Lebensjahren benötigt. "Weil die Mistel diese Verbindungen nicht von ihrem Wirt bezieht, bezeichnet man sie auch als Halbparasit", erklärt Burkart.

Da eine Mistel ihrem Baum relativ wenig Wasser stiehlt, verschlechtert sie normalerweise dessen Zustand kaum. "Ohnehin schadet sich eine Mistel selbst, wenn sie einen Baum zu sehr schwächt, weil sie ja auf dessen Leistungsfähigkeit angewiesen ist", erklärt die Botanikerin Christine Margraf vom Bund Naturschutz in München. Das ändert sich aber, wenn der Baum Stress hat, weil er etwa in einem trockenen Sommer nur wenig Wasser aus dem Boden holen kann. Das bekommen zum Beispiel Kiefern zu spüren, durch deren Borke sich die Kiefernmistel bohrt, die Botaniker Viscum album austriacum nennen. Hannes Lemme von der Bayerischen Landesanstalt für Wald- und Forstwirtschaft in Freising berichtet, dass sich junge Misteln nach den trockenen 1970er Jahren erfolgreich auf Kiefernzweigen ansiedelten, weil diese bereits geschwächt waren.

Damit aber beginnt ein Teufelskreis: Während die Kiefer bei anhaltender Trockenheit einfach ihren Wasserverbrauch dramatisch drosselt, tut die Mistel das nicht. So schwächen die Halbparasiten in der nächsten Dürre die Kiefern weiter, noch mehr Misteln können sich ansiedeln, die den Kreislauf in späteren Trockenperioden weiter beschleunigen. Wachsen mehrere Misteln auf einer Kiefer, verliert der Baum mehr Nadeln, dadurch steigt das Risiko des Absterbens. Mit dem Klimawandel droht etlichen Kiefernwäldern eine solche Entwicklung. Die Leiterin der Naturschutzpolitik des Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland, Heidrun Heidecke, betont aber: "Auslöser ist der Stress und nicht die Mistel."

Comeback der Weißtanne?

Probleme hat auch die Tannenmistel Viscum album abietis. Sie wächst nämlich nur auf dem klassischen Weihnachtsbaum Mitteleuropas, der Weißtanne. Die ist aber selten geworden, weil ihr vor allem in den 1960er Jahren Luftschadstoffe zu schaffen machten und weil ihre Nadeln im Winter Rehen und Hirschen erheblich besser munden als die Nadeln des Allerweltsbaumes Fichte. Klimawandel und steigende Temperaturen könnten der Weißtanne aber ein Comeback bescheren, vermutet der Naturwald-Pionier Georg Sperber. Denn die Weißtanne verträgt höhere Temperaturen viel besser als die Fichte. Mit Tannenbaum und Misteln scheinen die Weihnachtsbräuche also auch in absehbarer Zukunft gesichert.