Die Katastrophe der High Society nobilitiert den amerikanischen Geldadel.
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Es war, um gleich mit der hartnäckigst tradierten Legende aufzuräumen, nicht die größte Schiffskatastrophe aller Zeiten. Diese zweifelhafte Ehre kommt dem deutschen Flüchtlingsschiff "Wilhelm Gustloff" zu, das am 30. Jänner 1945 von einem sowjetischen U-Boot torpediert wird. Mehr als 9000 Menschen sterben. Klammert man Schiffsverluste aufgrund kriegerischer Handlungen aus, ist der Untergang der "Doña Paz" das verlustreichste Schiffsunglück: Die philippinische Fähre kollidiert am 20. Dezember 1987 auf dem Weg nach Manila mit dem philippinischen Tanker "Vector". Mehr als 4300 Menschen ertrinken. Beim Untergang der "Titanic" am 14. April 1912 sterben rund 1500 Menschen.
Die "Wilhelm Gustloff" ist aus Gründen politischer Korrektheit fast vergessen, es schickt sich nicht, das nationalsozialistische Deutschland in der Rolle des Opfers zu sehen. Manila wiederum ist weit weg, die Opfer sind, außer für ihre Angehörigen, anonym. So bilden sich keine Legenden. Wohl aber bei der "Titanic". Denn ihr Untergang ist die Tragödie der High Society. Mehr noch: Die "Titanic" ist ein Abbild der victorianischen Gesellschaft. Die Reichen und Mächtigen haben in der Ersten Klasse die besten Plätze; die sozial Schwachen sind in der Dritten Klasse unten im Rumpf angesiedelt, der Mittelstand der Zweiten Klasse ist über die Schiffshöhe verteilt, als wäre er ein Bindeglied zwischen Ober- und Unterschicht.
So versinkt mit der "Titanic" ein Weltbild. Zugleich ist es der Moment, in dem der amerikanische Geldadel seine Minderwertigkeitsgefühle dem britischen Blutadel gegenüber ablegen kann: Auch als Amerikaner weiß man mit Noblesse zu sterben.
J. J. Astor beispielsweise sitzt an der Bar, als er erfährt, dass die "Titanic" mit einem Eisberg kollidiert ist. Der reichste Mann der Welt sagt: "Ich hatte Eis bestellt, aber das ist lächerlich." Vielleicht trägt sich die Szene auch in Astors Kabine zu, als ihn der Kapitän vom Unglück unterrichtet, vielleicht trägt sie sich auch gar nicht zu, gesichert ist das alles nicht. Hauptsache, dass Astor in den Legenden, die sich um seinen Tod ranken, so würdevoll zurückhaltend bleibt, wie man es von einem wahren Adeligen erwartet.
Doch wo Helden sind, da sind auch Bösewichte. Joseph Bruce Ismay ist das dunkle Gegenüber der Lichtgestalt Astor: Ismay spielt die Rolle des Oberschurken. Er ist der Vorsitzende der White Star Line und somit gleichsam der Reeder der "Titanic". Auf Kosten von Frauen und Kindern soll er sich gerettet haben. Die amerikanische Presse verballhornt seinen Mittelnamen gar zu "Brute" (Unmensch). In Wahrheit dürfte Ismay geholfen haben, wo er konnte, und das ziemlich hektisch, bis er schließlich selbst in eines der Boote stieg. In der Presse las sich das, Ismay sei von Boot zu Boot gelaufen, um einen Platz für sich zu finden.
Legenden statt Tatsachen
Die Tendenz der Legenden, die vom ersten Moment an speziell in der US-Presse gesponnen werden, ist klar: hie die heldenhaften und aus sich selbst heraus adeligen Amerikaner, da die feigen Briten. Kann es sein, dass die US-Presse damit nur von einem Detail ablenken will, das bis heute praktisch unbeachtet geblieben ist?
Die "Titanic" nämlich war kein britisches sondern ein amerikanisches Schiff. Die White Star Line war bereits 1867 in Konkurs gegangen. 1869 kaufte die von Thomas Ismay gegründete Oceanic Steam Navigation Company den Namen und das Emblem der White Star Line und legte fest, dass alle ihre Schiffe einen auf "-ic" endenden Namen führen. 1901 kaufte der US-amerikanische Bankier John Pierpont Morgan diese neue White Star Line, wobei aus dem Besitzer Joseph Bruce Ismay der Vorsitzende der Reederei wurde. Da die Direktion in Großbritannien blieb, wurden die Schiffe auch weiterhin in Großbritannien registriert und fuhren unter britischer Flagge, waren jedoch de facto in amerikanischem Besitz.
Doch solche Feinheiten passen nicht zur Legendenbildung, und sie beginnt schon bei der Kiellegung der "Titanic" am 31. März 1909 auf der Harland & Wolff-Werft in Belfast: das größte Schiff, das luxuriöseste Schiff, das sicherste Schiff, das schnellste Schiff. Deshalb jagte es sein Kapitän Edward John Smith in Höchstgeschwindigkeit über den Nordatlantik, um das begehrte Blaue Band für die schnellste Reise von Europa nach Amerika zu erringen.
Doch diese Geschichte ist erfunden, in Umlauf gebracht wahrscheinlich von konkurrierenden deutschen Reedereien. Denn groß ist die "Titanic", sie ist auch luxuriös, und sie wäre unter normalen Umständen auch sicher - nur schnell ist sie nicht. Auf Tempo hat es ihr Eigentümer, die White Star Line, gar nicht angelegt. Sie überlässt der konkurrierenden Cunard Line die Schnelligkeit und setzt statt dessen auf Luxus.
Selbst die Passagiere der sogenannten Dritten Klasse, auch "Zwischendeck" genannt, sind erstaunlich gut untergebracht. Andere zeitgenössische Schiffe stellen diesen Passagieren nur riesige Schlafsäle zur Verfügung. Auf der "Titanic" sind es Zwei-, Vier- und Sechsbettkabinen mit Waschgelegenheit. Zusätzlich gibt es einen Aufenthaltsraum und einen Rauchsalon und Freiflächen zum Aufenthalt an Deck. Die Geschichte von den auf engstem Raum jämmerlich zusammengepferchten Menschen stimmt - auf allen Schiffen mit Ausnahme der "Titanic" (und ihrer Schwesterschiffe).
Tödliche Sprachbarriere
Und was hat es nun mit der Sicherheit auf sich? Als "unsinkbar" wurde die "Titanic" nie ausgegeben. Die Reederei sprach von "praktisch unsinkbar" aufgrund einer neuartigen Schottenkonstruktion, und die Schotten waren auch nicht zu niedrig, wie oft behauptet wird. Nachdem der Eisberg den Rumpf aufgerissen hatte, erwiesen sich die Decks als Problem: Sie waren wasserdurchlässig, wodurch die Schotten keine in sich geschlossenen Kammern bildeten. Das Wasser konnte die Schotten quasi umfließen.
Und die Zahl der Rettungsboote? Die "Titanic" hatte für 1178 Personen in 20 Booten Platz, es waren jedoch mehr als 2200 Menschen an Bord. Die Zahl der Rettungsbootsplätze entsprach indessen dem Gesetz. Mehr noch: Die "Titanic" bot 422 Rettungsbootsplätze mehr als vorgeschrieben. Dass die Boote schließlich unterbesetzt zu Wasser gelassen wurden, hatte mit dem Chaos an Bord zu tun - und die Besatzung hatte mit den modernen Bootsaufhängungen schlicht keine Erfahrung.
Auch wurden die Passagiere der Dritten Klasse nicht von den Rettungsmaßnahmen ausgeschlossen. Die hohe Opferzahl erklärt sich durch den langen, verwinkelten Weg von der Dritten Klasse zum Bootsdeck. Außerdem gab es kein Alarmsystem. Die Besatzung teilte den Passagieren mündlich mit, was zu tun ist. In der Dritten Klasse reisten zahlreiche Ausländer, die des Englischen unkundig waren. Nicht Hybris verursachte die erschreckenden Ausmaße der Katastrophe, sondern Schlamperei und fehlende Sprachbeherrschung.
Davon freilich ist nichts in den "Titanic"-Legenden zu merken, die nicht zuletzt auch in Filmen endlos wiedergekäut werden: Zehn sind es bisher. Mit der "Wilhelm Gustloff" befasst sich ein einziger - und damit einer mehr als mit der "Doña Paz".
Ein Schiff in der Nebenrolle
(cb) Kürzlich hat Kate Winslet gesagt, dass "My Heart will Go On" bei ihr Würgreflex auslöst. Dann ist sie besser aufgehoben bei der neuen TV-Serie "Titanic" als bei der 3D-Neuauflage des berühmten James-Cameron-Schinkens (ab Freitag im Kino). Kein Celine-Dion-Schmalz weit und breit: Der britische Vierteiler startet Mittwoch auf ORF 2 (22 Uhr). Kann man dem altbekannten Mythos erzählerisch noch etwas Neues abringen? Versucht wurde das von Autor Julian Fellowes, der mit der Serie "Downton Abbey" (auf DVD erhältlich) einen veritablen Hit über die Epoche vor und während des Ersten Weltkriegs geschafft hat – und nun als Spezialist für britischen Adel gilt. Wer sich nicht davon irritieren lässt, dass der erste Teil gar flott in den Untergang segelt, wird mit ausgeklügelter Narration belohnt: Jeder Teil zeigt die Katastrophe aus neuer Perspektive – alle drei Klassen und die Besatzung – und verschränkt launig lose Erzählfäden. Das Schiff spielt dabei nur eine Nebenrolle.