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Der vergessene Brexit

Von Robin Lumsden

Recht

Bis Ende des Jahres muss ein Handelsabkommen ausgehandelt werden. Sonst wird der Hard Brexit doch noch Realität.


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Seit 31. Jänner ist das Vereinigte Königreich nun nicht mehr Mitglied der Europäischen Union. Auch wenn der Abschied, beispielsweise durch das gemeinsame Singen des Burns-Klassikers "Auld Lang Syne" durch die EU-Parlamentarier, öffentlichkeitswirksam sehr emotional begangen wurde, so war doch auf beiden Seiten vor allem große Erleichterung feststellbar. Mehr als dreieinhalb Jahre nach dem verhängnisvollen Referendum war Großbritannien endlich aus der EU ausgeschieden.

Europäischer Markt viel größer

Zeit, Gras über die Sache wachsen zu lassen und die Beziehungen zwischen der EU und dem Vereinigten Königreich zu normalisieren, ist aber äußerst wenig gegeben. Bis Ende des Jahres muss ein Handelsabkommen ausgehandelt werden, ansonsten wird der gefürchtete Hard Brexit, also das Ausscheiden der Briten aus der EU ohne Abkommen, verspätet doch noch Realität. In einem solchen Szenario wären die bevorzugten Handelsbedingungen passé und würden durch das allgemeine Meistbegünstigungsprinzip der Welthandelsorganisation WTO ersetzt werden. Konkret heißt dies, es würden für den Handel zwischen dem Vereinigten Königreich der EU dieselben Bedingungen und Zölle gelten, wie sie die Briten dem Rest der Welt gewähren.

Dies trifft vor allem die britische Bevölkerung. Waren aus EU-Ländern werden durch die Zölle teurer und somit weniger erschwinglich. Der erhoffte Effekt, dass dies durch eine gesteigerte Inlandsfrage nach britischen Waren die heimische Industrie stärken würde, ist aber zweifelhaft, da im Gegenzug ja auch die EU gegen das Vereinigte Königreich ihre allgemeinen Außenzölle einführen und somit auch britische Waren innerhalb der Union teurer werden würden. Auch wenn Großbritannien zugegebenermaßen einen für europäische Verhältnisse großen Binnenmarkt hat, so ist doch der europäische Markt um ein Vielfaches größer. Klarerweise würde ein Hard Brexit da wie dort vor allem die Konsumentinnen treffen - es ist aber schon anzunehmen, dass die Briten stärker darunter leiden würden.

Ein Abschluss der Verhandlungen vor Ende des Jahres, dem Ende der Übergangsfrist, erscheint allerdings derzeit nahezu unmöglich. Die Covid-19-Pandemie hat die ohnehin schon ambitionierte, wenn nicht gar unrealistische Timeline komplett durcheinandergewirbelt. Dass sich sowohl der europäische Verhandlungsführer Michel Barnier als auch der britische Premierminister Boris Johnson mit dem Coronavirus infiziert haben, erschwert die Durchführung der Verhandlungen noch zusätzlich.

Verhandlungen schwierig

Aber selbst ohne die Pandemie wären die Verhandlungen schwierig geworden, da die EU nicht gewillt ist, von ihren Forderungen, den Zugang zum europäischen Markt an die Anwendungen der vier Grundfreiheiten, darunter die Bewegungsfreiheit von Personen, sowie die Durchsetzbarkeit von europäischem Recht zu knüpfen, abzuweichen. Für Brexiteers wie Johnson ein absolutes No-Go, ein Gesichtsverlust, den er seinen Anhängern wohl nur schwer verkaufen könnte. Gleichzeitig stellt sich mit Labor die wichtigste Oppositionspartei nach dem Abgang von Jeremy Corbyn neu auf. Ihr neuer Vorsitzender, der Jurist Keir Starmer, hat dabei zuletzt mächtig Eindruck hinterlassen, indem er Johnsons Stellvertreter Dominic Raab in der Fragestunde im House of Commons mit messerscharfen Fragen regelrecht filetierte.

Das Vereinigte Königreich hat nun bis zum 1. Juli Zeit, um eine Verlängerung der Übergangsperiode bis spätestens Dezember 2022 zu beantragen. Für Johnson, der mit dem Slogan "Get Brexit Done" im letzten Dezember die absolute Mandatsmehrheit im House of Commons eroberte, wäre dies eine schwere politische Niederlage. Ein Brexit ohne niederschmetternde ökonomische Konsequenzen wäre somit erst sechseinhalb Jahre nach dem Referendum Realität. Gleichzeitig würde er somit aber die britische Bevölkerung, gerade während der schwersten Rezession seit 1945, vor einem weiteren Nackenschlag bewahren. Ob der britische Premierminister aber für das Wohl des Volkes statt für seinen eigenen politischen Vorteil arbeitet, bleibt abzuwarten, bietet sich ihm doch die einmalige Gelegenheit, die ökonomischen Konsequenzen eines Hard Brexits der Corona-bedingten Wirtschaftskrise zuzuschreiben.

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