Neue Unruhen im umstrittenen Kaschmir fordern 30 Todesopfer. Der Konflikt dauert schon nahezu 70 Jahre an.
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Srinagar/Wien. Nach wochenlangen Unruhen in Kaschmir kam es erneut zu Gefechten in der Nähe der Stadt Uri an der indisch-pakistanischen Grenze. Mindestens acht Menschen wurden dabei getötet, als sie versuchten, über die Grenze von Pakistan nach Indien einzudringen. Vor dem Angriff lieferten sich pakistanische und indische Soldaten ein etwa einstündiges Feuergefecht. Danach gab es einen Schusswechsel zwischen indischen Truppen und 15 Angreifern, die unberechtigt die Grenze überqueren wollten. Die indische Armee beschuldigt Pakistan, militanten Gruppen Feuerschutz gegeben zu haben, damit diese in indisches Gebiet gelangen konnten.
Zwei Tage davor kam es zu einem Anschlag, bei dem 18 Soldaten und vier Angreifer ums Leben kamen. Eine Gruppe Bewaffneter stürmte einen Armeestützpunkt im indischen Teil Kaschmirs. Laut Angaben der Armee gerieten mehrere Behelfsunterkünfte der Soldaten in Brand. Zeugen berichteten von stundenlangen Explosionen und Gefechten. Zu dem Angriff hat sich bis dato noch niemand bekannt. Der indische Innenminister Rajnath Singh machte von Pakistan unterstützte militante Gruppen dafür verantwortlich und nannte Pakistan einen "terroristischen Staat". Pakistan weist die Vorwürfe zurück.
Neben solchen Anschlägen finden vor allem im indischen Teil Kaschmirs immer wieder Proteste statt, bei denen Sicherheitskräfte gewaltsam gegen Demonstranten vorgehen. Pakistan und Indien kämpfen seit fast 70 Jahren um ihr Recht an Kaschmir.
Der Ursprung des Konflikts liegt in der Auflösung Britisch-Indiens 1947, die zur Gründung der Staaten Indien und Pakistan führte. Lord Mountbatten, damaliger britischer Generalgouverneur und Vizekönig von Indien, legte im Maßnahmenplan der britischen Regierung zur Entlassung Britisch-Indiens in die Unabhängigkeit fest, dass Gebiete mit einer mehrheitlich muslimischen Bevölkerung von nun an pakistanisches Territorium waren, und jene Regionen, die eine Minderheit an Muslimen aufwiesen, zur Indischen Union gehörten. Auf Kaschmir und andere semi-autonome Fürstenstaaten traf dieses Entweder-oder-Kriterium nicht zu. Zwar wurden zwei Drittel Muslime in Kaschmir gezählt, aber ein hinduistischer Maharadscha herrschte über das Land. So blieb es Kaschmir selbst überlassen, sich für einen der neugegründeten Staaten zu entscheiden. Maharadscha Hari Singh verweigerte die Entscheidung und versuchte so die Souveränität seines Landes zu wahren. Noch im selben Jahr kam es zu Unruhen, da Pakistan Kaschmir in seinem Territorium wollte. Pakistanische Truppen wurden in das Land eingeschleust. Singh holte sich Hilfe aus Indien, im Gegenzug wurde eine Beitrittserklärung unterzeichnet. Pakistan gab sich nicht geschlagen. Der erste indisch-pakistanische Krieg begann.
Geschichte der Gewalt
1949 wurde der erste Krieg um Kaschmir durch einen von den Vereinten Nationen (UN) initiierten Waffenstillstand beendet und Kaschmir in pakistanisch und indisch kontrollierte Gebiete geteilt. Der Grenze zwischen den Regionen wurde der Name "Line of Control" (Waffenstillstandslinie) verliehen. Anfang der 60er Jahre wurde das Gebiet Aksai Chin von China besetzt, außerdem trat Pakistan einen Streifen seines Territoriums an die Volksrepublik ab. Pakistan bezeichnet ganz Kaschmir seit dem ersten Krieg als "umstrittenes Gebiet" und will ein Referendum über dessen endgültige Zugehörigkeit. Die UN haben bereits nach dem ersten Krieg vorgeschlagen, eine Volksabstimmung zu halten. Da Indien ein Referendum ablehnt und die Vorbedingungen dafür auch von pakistanischer Seite nicht erfüllt wurden, ist es nie dazu gekommen.
Bisher haben Indien und Pakistan drei Kriege um Kaschmir geführt. Wegen des starken Widerstands von Pakistan und muslimischen Kaschmiris hat Indien Jammu und Kaschmir in den folgenden Jahrzehnten stark militärisch aufgestellt. Indische und kaschmirische Sicherheitskräfte wehren sich bis zum heutigen Tage gegen Demonstranten, unter welchen sich auch Kinder und Jugendliche befinden. Und das auf brutale Art und Weise.
Anfang Juli 2016 wurde Burhan Wani von der indischen Armee getötet. In seinem Kampf für ein islamisches Kaschmir wurde er von den einen als Freiheitskämpfer, von den anderen als Terrorist bezeichnet. Nach der Ermordung des 22-Jährigen sind bis dato mehr als 80 Menschen bei Protesten in Kaschmir umgekommen. Durch die von Sicherheitskräften verwendete Pelletmunition verloren zudem viele der Getroffenen ihr Augenlicht. Pakistan und Menschenrechtsorganisationen fordern, dass Sicherheitskräfte zur Rechenschaft gezogen werden und die Verwendung von Pellets verboten wird.
Demonstranten, aber auch Zivilisten, werden gefoltert, schwer verletzt und getötet. Durch den "Armed Forces Special Power Act", der seit 1990 in Jammu und Kaschmir gilt, ist das sogar rechtlich gedeckt. Menschenrechtsverletzungen können so nicht weiter verfolgt werden. "Es ist immer wieder debattiert worden, diesen Paragraphen zurückzuziehen beziehungsweise auch mehr Sicherheitskräfte aus Kaschmir abzuziehen, aber da ist bislang wenig passiert", sagt Christian Wagner, Wissenschafter der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.
"Protest der Unzufriedenheit"
Der Konflikt in Kaschmir hat sich über die Jahre verändert. War es zu Beginn noch ein rein territorialer Streit, spielen heute verschiedene Aspekte eine Rolle. Laut Wagner sei es auch ein Krieg der Religionen, der Rache und der Unzufriedenheit. Seit Jahrzehnten herrscht ein Streit zwischen Neu-Delhi und den Landesregierungen im indischen Teil Kaschmirs über die Frage der Autonomie: "Auf der einen Seite ist man wegen der Präsenz der Sicherheitskräfte verärgert, andererseits herrscht Unzufriedenheit aufgrund fehlender Entwicklung, etwa im Bereich Wirtschaft, und Jugendarbeitslosigkeit." Der Urgedanke ist aber symbolischer Natur. Als Vollendung der Staatsidee, das Land der Muslime Südasiens zu sein, ist es für Pakistan wichtig, auch Kaschmir zu seinem Territorium zählen zu können. Genauso findet aber Indien, dass es als säkularer Staat, in dem es Platz für alle Religionsgemeinschaften gibt, ein Recht auf Kaschmir hat - wenn auch nur auf Teile davon.
China mischt sich nicht ein in die Differenzen von Pakistan und Indien und sei eher daran interessiert, den Status quo beizubehalten, so der Kaschmirexperte. Würde Kaschmir an einen der Staaten übergehen, müsste China auch seine Gebiete aufgeben. Für das Verbleiben der derzeitigen Situation gebe es aber keine symbolischen Gründe. "Ich glaube, alle Länder tun sich schwer, einmal kontrolliertes Territorium wieder preiszugeben. Zudem verläuft der ‚China Pakistan Economic Corridor‘ der Seidenstraßeninitiative von China durch den pakistanischen Teil Gilgit Baltistan", sagt Wagner. China und Pakistan sind somit strategische Verbündete. Laut dem Experten werde Pakistan, das auf eine Internationalisierung des Konflikts baut, in der Kaschmirfrage aber nicht von der nordöstlich angrenzenden Volksrepublik unterstützt. Wie Indien setze China auf bilaterale Gespräche. Diese sieht Wagner aber nicht in Sicht: "Momentan gibt es überhaupt keine Gespräche. 2007 war die Bewältigung des Konfliktes vermutlich am nächsten, als man eine Lösung auf bilateraler Basis gefunden hatte." Nach den Terroranschlägen in Mumbai 2008 entgleiste die Beziehung zwischen Pakistan und Indien aber wieder. Die Verträge blieben ununterschrieben.
Die Unruhen in Kaschmir werden seither zunehmend von militanten Gruppen ausgenutzt. In Kaschmir sind Terrorgruppen wie Lashkar-e-Taiba und Jaish-e-Mohammed aktiv, die von pakistanischen Sicherheitskräften geduldet beziehungsweise unterstützt werden. Jaish-e-Mohammed wird von der indischen Armee für den Anschlag am vergangenen Sonntag verantwortlich gemacht. Die ohnehin angespannten Beziehungen zwischen den beiden Atommächten werden durch den Vorfall noch mehr belastet. Bei der diesjährigen UN-Generalversammlung in New York wird Kaschmir vermutlich auch auf der Tagesordnung stehen.