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Der Vergleich macht unsicher

Von Christoph Rella

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Italien und Brasilien verteidigten ihre WM-Titel unter ganz anderen Bedingungen.


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Jetzt oder nie. So lautet wohl nun das Motto der frisch ermittelten Finalisten dieser Fußball-WM. Während Argentinien erstmals seit 37 Jahren wieder die World-Cup-Trophy in den Nachthimmel stemmen möchte - zudem fehlt Lionel Messi einzig dieser Pokal in der Sammlung -, könnte sich Frankreich mit der Verteidigung des Titels endgültig in die WM-Geschichtsbücher einschreiben. Immerhin ist das Kunststück, eine Weltmeisterschaft zwei Mal hintereinander zu gewinnen, bis dato nur zwei Teams gelungen - Italien 1934/38 sowie Brasilien 1958/62. Ihre Finalgegner hießen damals: Ungarn, Schweden und die Tschechoslowakei.

Nun waren die Finalisten von damals gewiss sehr gute Teams. Nur sind ihre Leistungen und vor allem das Zustandekommen ihres Erfolgs mit den Bedingungen, unter welchen sich Frankreich in diesen Tagen behaupten musste und muss, vergleichbar? Müsste man eine Titelverteidigung der Franzosen, sollte sie am Sonntag erfolgreich sein, sportlich nicht höher einschätzen als jene des Königreichs Italien und Brasiliens vor Jahrzehnten? Es gibt einige Gründe, die dafür sprechen - statistisch, politisch sowie auch regelrechtlich.

Als stärkstes Argument gilt zunächst die

Anzahl der Teilnehmer.

Waren im Vorfeld der WM 2022 mehr als 200 Teams zur Qualifikation zugelassen, waren es 1934 gerade einmal 32. 1958, als Brasilien in Schweden seinen ersten WM-Titel holte, waren es kaum mehr, nämlich 52. In der Liste derjenigen, die den Sprung in die Turnierphase schafften, dominierten klar die Europäer, während die Länder aus Übersee nur ein Viertel der Teams stellten. Neben Brasilien und Argentinien schafften es nur dekolonisierte Nationen wie Ägypten oder Kuba ins Startfeld. Eine Ausnahme bildete 1938 Indonesien, das dereinst zwar noch Kolonie der Niederlande war, aber zur WM zugelassen war. (Das Team schied nach einem 0:6-Debakel gegen Ungarn vorzeitig aus.)

Neben der geringen Konkurrenz sind auch politische Einflüsse ins Treffen zu führen. Dass England die WM 1934 aus Frust darüber, dass das Turnier nicht auf der Insel ausgerichtet wurde, boykottierte, ist hier ebenso zu nennen wie die Nicht-Teilnahme des amtierenden WM-Vierten Österreich bei der WM 1938. Im März des Jahres war die Alpenrepublik Teil des Deutschen Reichs geworden und daher nicht startberechtigt. Kurios ging es wiederum bei der Qualifikation für die WM 1958 zu. Weil sich die islamischen Länder weigerten, gegen Israel zu kicken, wurde ausgerechnet Wales "als Vertreter Asiens und Afrikas" zum Turnier zugelassen. Die Elf erreichte sogar das Viertelfinale, unterlag hier aber dem späteren Weltmeister Brasilien 0:1.

Last but not least darf bei der Beurteilung der Vergleichbarkeit nicht übersehen werden, dass zumindest in den 1930er Jahren teils noch ganz andere Regeln galten wie heute. Fouls wurden selten geahndet, Abseits oder Elfmeterschießen waren noch unbekannt. Davon profitierte der spätere Weltmeister Italien. Vor allem war es die unverschämte Parteilichkeit der Schiedsrichter, die den Azzurris den Weg zum Titel ebneten. Bis heute gelten Italiens K.o.-Spiele 1934 gegen Spanien, Österreich und die Tschechoslowakei als beispiellos. Dieser Titel war gestohlen. 2022 hätte ihn Frankreich verdient.