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Das Beste und das Schlimmste liegen in den USA nah beieinander. Während das für viele den Reiz ausmacht, geht die Mittelschicht immer mehr verloren. Das Coronavirus hat die wirtschaftlichen Realitäten noch einmal verschärft.
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Etwas muss man den US-Amerikanern neidlos zugestehen: Sie können verdammt gut Geschichten erzählen. Einige der Archetypen sind nahtlos in die glorifizierte US-amerikanische Vergangenheit eingegangen: Eine neue Welt wurde erobert, wo jedermann es zum Reichtum bringen kann, wenn ihm Mut, Gott und Fleiß beistehen.
Diese Erzählmaschinerie ist von großen amerikanischen Schriftstellern aufrechterhalten worden und wurde durch Hollywood schließlich in ein Perpetuum mobile geschickt.
Die Wirklichkeit sah schon immer anders aus. Die USA sind zwar ein Land, in dem man theoretisch einen schnellen Aufstieg hinlegen kann, aber die Wahrscheinlichkeit, dass man ewig Tellerwäscher bleibt, ist unwahrscheinlich viel größer. Es sind nicht Mut, Gott und Fleiß, die den amerikanischen Erfolg bedingen, sondern ist vor allem der US-Dollar.
Um eine angesehene - und damit meist private - Universität zu besuchen, sind im Schuljahr 2020/21 durchschnittlich 35.000 Dollar Schulgebühren fällig, für schlecht ausgestattete öffentliche Universitäten auch gar nicht wenige knapp 9.700 Dollar pro Schuljahr.
Das traditionelle Versprechen der modernen Gesellschaft lautet: Mit Bildung kommt man weiter. Ist erst die Ausbildung da, so steht einem Leben in der Mittelschicht nichts im Weg. Aber auch das stimmt in den USA nicht mehr. Diese angehende amerikanische Mittelschicht, die sich durch Ausbildung ihren Platz in der Gesellschaft ergattern will, wird von den Schulden, die sie dadurch angehäuft hat, erdrückt.
Die berüchtigte Student Loan Debt, also die Verschuldungen der Studenten, erreichte im Jahr 2020 das Ausmaß von 1,56 Billionen US-Dollar. Damit wird die Verschuldung wegen der Ausbildung zum zweitgrößten Grund für die Privatverschuldung - noch mehr Schulden haben allein jene, die eine Hypothek wegen einer Immobilie aufgenommen haben. Und die haben dann wenigstens das Haus, dessen Wert im Normalfall steigt. Interessant ist auch, dass im Land, in dem der Konsum angeblich über allem steht, die Verschuldung für das Studium locker jener Verschuldung für Kreditkarten oder Autokäufe (die extra geführt werden) übersteigt.
Knapp 45 Millionen US-Amerikaner leben mit diesen Schulden, die im Durchschnitt bei 30.000 Dollar liegen und deren Abbezahlung sie jahrzehntelang begleitet.
Die USA feiern den kometenhaften Aufstieg einiger weniger Helden, die - scheinbar ungehindert von europäisierten Steuern, Genehmigungen und Behördenwegen - ihren Weg nach oben schaffen.
Diejenigen, die trotz Bemühungen unten bleiben, werden dafür auch nicht von einem europäisierten sozialen Netz durch Umverteilung und Versicherungen aufgefangen.
Der Mythos Unabhängigkeit
Allerdings kann auch das heldenhaft abgebildet werden: Wenn es um Familien geht, die in den Weiten Nebraskas nichts brauchen als einander und ihre Landwirtschaft. Es war noch nie viel zum Leben da. Aber es war schon immer genug. Und diese Menschen sind stolz darauf, dass sie dem Staat nicht auf der Tasche liegen. Auch das ist ein Menschentyp, der schon oft besungen und porträtiert wurde und der von den Betroffenen im echten Leben nachgeahmt wird.
Es wird hier der alte Mythos gepflegt, Mensch gegen Landschaft. Auch von jenen, die schon lange nichts mehr mit Landwirtschaft am Hut haben. Den Stetson, den tragen sie dennoch weiter. Und wenn die Nahrung zu knapp wird, schnappen sie sich ihre Flinte und schießen ein paar Hasen. Das ist in den USA nämlich, anders als in Europa, erlaubt. In Europa bräuchte man dafür nämlich - richtig - eine Genehmigung.
In solchen dünn besiedelten Landschaften der USA ist das Coronavirus noch ganz weit weg. Wenn das nächste Haus meilenweit entfernt ist, atmet man sich weder in der Arbeit noch in der U-Bahn an.
Eine Drei-Klassen-Medizin
Doch nicht die ganzen USA sind dünn besiedelt und im Wilden Westen geblieben. In dem restlichen Land, in dem der Spalt zwischen Armut und Reichtum kontinuierlich aufgeht, platzte heuer zusätzlich noch das Coronavirus. Während anfänglich gedacht wurde, dass die Pandemie der große Gleichmacher sein werde, der alle sozialen Schichten gleichermaßen gefährdet, so hat sich überall, aber insbesondere in den dichter besiedelten Gebieten gezeigt, dass dieser Graben verbreitert und vertieft wurde.
Schon im April erklärte das Fachjournal "The Lancet", dass die ärmeren Gesellschaftsschichten vom Virus überproportional betroffen sind. Das hat verschiedene Gründe: Menschen mit Bürojobs konnten sich im Homeoffice einigeln.
Krankenpfleger, Supermarkt-Mitarbeiter und Lieferdienste hatten nicht diese Möglichkeit. Und in solchen Berufsgruppen - deren Ausbildung wenig kostet, so sie vorhanden ist - sind ethnische Minderheiten in den USA besonders vertreten. Finanziell schwache Haushalte leben auch oft auf engem Raum und haben wenig Möglichkeiten, sich im Falle des Falles physisch zu distanzieren. Und so kam es, dass Angehörige ethnischer Minderheiten sowie Migranten schneller krank geworden sind - und schneller gestorben. Und sie leiden auch finanziell stärker als Weiße.
Eine gemeinsame Studie von NPR und der Robert Wood Johnson Foundation hat errechnet, dass rund 30 Prozent der weißen Haushalte mit schweren finanziellen Problemen aufgrund der Pandemie zu kämpfen hat. Schwarze Haushalte sind zu 60 Prozent schwer betroffen, hispanische sogar zu 72 Prozent. Die Lebensader vieler Migranten, die Gastronomie, ist schließlich weggebrochen.
Und wer krank ist, bekommt nicht notwendigerweise medizinische Versorgung - oder bleibt ihr aufgrund von Angst einer unüberschaubaren Kostenlawine fern.
Die USA sind ein Land, das den Reigen der Nobelpreisträger in der Medizin so dominiert wie kein anderes. Bis auf ein Ausnahmejahr waren seit 2011 in allen mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Forscherteams Menschen vertreten, die in den USA arbeiten. Insgesamt zählten die USA alleine vierzehn Preisträger in der letzten Dekade.
Rückläufige Bevölkerung
Unterdessen kann ein Fünftel der US-amerikanischen Bevölkerung laut der Robert Wood Johnson Foundation selbst bei schweren medizinischen Problemen keine Versorgung bekommen. Um die medizinische Versorgung, die für jene Bürger offensteht, die sich zwar den Arztbesuch leisten können, aber nicht jenen auf Spitzenniveau, ist es ebenso düster bestellt.
Dank eines aggressiven Lobbyings von Pharmakonzern Purdue wurde seit Mitte der 1990er Jahre ein Opioid für alltägliche Schmerzen verschrieben, das eigentlich nur in der Palliativpflege etwas zu suchen hätte. Unter dem Namen Oxycontin sorgte das stark süchtig machende Mittel vor Covid-19 für die größte Gesundheitskrise der Neuzeit in den USA. Donald Trump rief wegen der Unzahl an Drogentoten 2017 sogar den nationalen Gesundheitsnotstand aus. Gefruchtet hat es bisher wenig, die Zahl steigt stetig. 2019 starben über 50.000 Menschen in den USA an einer Überdosis Opioide. Die Krise wird als Hauptursache gesehen, weshalb die Bevölkerungsentwicklung in den USA rückläufig ist. Freilich ist die Zahl der Opioid-Toten in 2019 nur ein Viertel jener Zahl, die 2020 in den USA an Corona gestorben sind.
Der für die Opioid-Krise verantwortliche Konzern hat übrigens seine Schuld eingestanden - und Insolvenz angemeldet. Das Vermögen der Eigentümer wurde nicht angetastet.