Gotteskrieger von Boko Haram haben in Nigeria Städte erobert und "islamisches Kalifat" ausgerufen, nun greift Konflikt auf Kamerun über.
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 10 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Abuja/Paris/Wien. Es waren offenbar heftige Kämpfe: Kameruns Armee hat nach Angaben der Regierung mehr als hundert Kämpfer der radikal-islamischen Gruppe Boko Haram getötet. Diese hatten zuvor Granaten auf die Grenzstadt Fotokol abgefeuert. Die Angaben zu den Todeszahlen konnten zunächst aber nicht von unabhängiger Seite bestätigt werden.
Es waren nicht die ersten Attacken von Boko Haram auf das Staatsgebiet von Kamerun. Die Entwicklung ist brisant: Die militante islamistische Sekte stammt aus Nigeria und hat dort bisher auch operiert - vor allem im moslemischen Norden und Nordosten des Landes. Nun trägt sie den Konflikt offenbar über die Grenze.
Boko Haram ist bei seinen Angriffen auf Kamerun wohl auf Vergeltung aus, sagt Marc-Antoine Pérouse de Montclos, Professor am Institut für Geopolitik an der Pariser Universität Vincennes à Saint-Denis. Denn die Armee von Kamerun hat mit dem nigerianischen Militär vereinbart, bei der Bekämpfung von Boko Haram zu kooperieren. "Damit wurde Kamerun zum Ziel von Boko Haram", sagt Pérouse de Montclos im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
Dasselbe gelte für Niger und den Tschad, deren Armeen ebenfalls Boko Haram mitbekämpfen sollen. "Ich befürchte, dass diese Militarisierung eine sich selbst erfüllende Prophezeiung wird", sagt Pérouse de Montclos. Nämlich in dem Sinne, dass Boko Haram auch die Armeen dieser Länder angreift und sich der Konflikt somit internationalisiert. Die Region droht damit zu einem noch größeren Brandherd werden, als sie es ohnehin schon ist. Die islamistischen Kämpfer sollen bereits Stützpunkte in Kamerun, Nigeria und dem Tschad aufgebaut haben.
Dass die Sekte Boko Haram, deren Name so viel wie "Westliche Bildung ist Sünde" bedeutet, vor keiner Gewalttat zurückschreckt, hat sie schon oft bewiesen: Seit Jahren überzieht sie Nigeria mit Anschlägen, lässt auf belebten Märkten Sprengsätze hochgehen oder überfällt Dörfer und schlachtet die Bewohner ab. Im April 2014 entführte Boko Haram mehr als 200 Mädchen aus einer Dorfschule, von denen noch immer jede Spur fehlt.
Boko Haram finanziert sich über Geschäfte und Schutzgeld
In den vergangenen Monaten haben die Islamisten aber ihre Taktik erweitert: Boko Haram agiert nun zusehends wie eine Armee und hat in ihrer Hochburg, dem nigerianischen Teilstaat Borno, ganze Städte und Regionen erobert. Ihr Anführer Abubakar Shekau hat ein "islamisches Kalifat" - nach dem Vorbild der IS im Irak und in Syrien - in den eroberten Gebieten ausgerufen. Die nigerianische Armee versucht nun den Vormarsch zu stoppen, rund um die Stadt Bama sind heftige Gefechte ausgebrochen.
Doch bisher stand die nigerianische Armee Boko Haram eher hilflos gegenüber. Der Grund dafür liegt für den Nigeria-Experten Pérouse de Montclos auf der Hand: "Sie ist eine korrupte Institution wie viele andere." Von den Milliarden Euro, die in dem Ölstaat jedes Jahr in den Sicherheitsapparat fließen, kommt nur ein Bruchteil bei den Soldaten an der Front an. "Und das bedeutet: Die Soldaten haben nicht genug Munition, keine geeignete Ausrüstung und oft nicht einmal Benzin für ihre Fahrzeuge."
Immer wieder desertieren deshalb demotivierte nigerianische Soldaten und fliehen über die Grenze. Damit sei es laut Pérouse de Montclos wiederum für Boko Haram leicht, an Waffen heranzukommen. Deren Kämpfer würden sich einfach das von den Soldaten zurückgelassene Gerät schnappen. Die zweite Quelle für den Nachschub der Gotteskrieger sei der Schwarzmarkt in der Region, an dem jede Menge Waffen sehr billig erhältlich seien, berichtet der Politologe.
Geld für die Hochrüstung scheint Boko Haram zu haben: Die Islamisten sind laut Pérouse de Montclos an lokalen Firmen beteiligt. Zudem pressen sie lokalen Geschäftsleuten Schutzgeld ab. Auch Politiker wurden immer wieder beschuldigt, Boko Haram zu unterstützen. Pérouse de Montclos glaubt aber nicht, dass die Sekte heute noch Geld von lokalen Gouverneuren bekommt, denn die Islamisten seien dafür viel zu unberechenbar und gewalttätig geworden.
Die Zivilbevölkerung ist den Sektierern vielerorts hilflos ausgeliefert. Aber auch die Armee bietet oft keinen Schutz. Ganz im Gegenteil: Menschenrechtsorganisationen werfen dem Militär vor, bei ihrem Kampf gegen Boko Haram auch schwere Übergriffe gegen die Zivilbevölkerung zu begehen. Zerrieben zwischen den Fronten, sind zehntausende Menschen auf der Flucht.