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Der Wahnsinnsbegrenzer

Von Solmaz Khorsand

Politik
Franz Semper hat von der Kommandozentrale aus den Überblick.
© Luiza Puiu

Ein Terroranschlag in Wien? Würde es soweit kommen, Polizist Franz Semper hält die operativen Zügel in der Hand.


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Wien. Naturdokumentation. Die sieht sich Franz Semper im Fernsehen am liebsten an. Sie sind ruhig. Sie sind entspannend. Und sie sind vor allem weit weg von seinem Alltag. Kein Adrenalin. Kein Abenteuer. Kein Ausnahmezustand. Den hat er ohnehin fünf Tage die Woche. Wenn es dumm läuft, sogar öfter. Franz Semper ist Leiter der Organisations- und Einsatzabteilung im Landespolizeikommando Wien. Ob bei einem Fußballspiel oder bei einer Demonstration. Ob bei einem Staatsbesuch oder dem Eurovision Song Contest. Semper ist zur Stelle. Das ist sein Job. Er ist zuständig für die operative Planung und Abwicklung aller Großeinsätze in Wien. Und dazu zählt auch die Koordination des Polizeieinsatzes bei einem etwaigen Amoklauf oder Terroranschlag.

Ein Terroranschlag in Wien? Früher hat man sich die Frage nicht laut zu stellen gewagt. Wer es zaghaft tat, wurde als Hysteriker, Schwarzmaler oder gar Populist abgestempelt. Dann kam Paris, Nizza, Istanbul, Würzburg, München, Reutlingen, Ansbach. Und aus einer zaghaften Frage wurde eine laute, die heute in keinem Repertoire einer guten Abendkonversation fehlen darf: Und wann ist es bei uns so weit? Wann kommt der Wahnsinn auch nach Wien?

Franz Semper seufzt. "Hundertprozentige Sicherheit gibt es nicht", sagt der gebürtige Waldviertler. Er sitzt in seinem Büro, im sechsten Stock der Landespolizeidirektion am Schottenring 7-9. Seit 17 Jahren leitet der 59-Jährige die Abteilung. 350 Beamte unterstehen seinem Kommando. Vom szenekundigen Beamten bis zum Sprengstoffexperten, sie alle befolgen seine Order. Wie ein Arzt, der einem Kranken seine Diagnose schonend mitteilen will, spricht der Mann mit dem Schnauzer und der Brille über den Was-wäre-wenn-Fall in Wien. Nüchtern, ruhig, ein bisschen erschöpft. Es gilt nichts zu beschönigen und auch nichts kleinzureden. Details können keine verraten werden. Nur so viel: Man probt den Ernstfall. Intern wie extern. Mit den eigenen Leuten, aber auch mit jenen von Feuerwehr, Rettung, den Wiener Linien, der ÖBB und dem Personal von Krankenhäusern. Franz Semper weiß um den Panikknopf in den Köpfen der Leute. Für ihn ist ein Anschlag keine zynische Fiktion, sondern ein Szenario, auf das es sich vorzubereiten gilt.

Vor knapp zwei Wochen schien das Szenario realer denn je zu sein. Ein anonymer Absender hat gedroht, öffentliche Einrichtungen wie den Hauptbahnhof und den Flughafen Wien-Schwechat sowie Polizeiinspektionen in Wien, Niederösterreich und in der Steiermark anzugreifen. Schon öfter wurden derartige Emails verschickt. Doch dieses Mal wurden konkrete Ziele mit Adressen, Datum und Uhrzeit genannt. Das war keine Übung. Das war ernst. Experten des Innenministeriums und des Verfassungsschutzes beratschlagten über die Lage, während Sempers Leute die Präsenz auf der Straße aufstockten. Am Ende hieß es dann: Alles unter Kontrolle.

In solchen Situationen wandert Franz Semper von seinem Büro hinauf in den 7. Stock der Landespolizeidirektion. Während seine Kollegen auf der Straße sind, hat er hier im Kommandoraum den Überblick. Zwischen sechs und 30 Beamte nehmen hier Platz. Wie ein Newsroom sieht die abgedunkelte Einsatzzentrale aus mit ihren zahlreichen Bildschirmen und Telefonen. In der Mitte sitzt Semper. Im Rücken hat er das "Cockpit", in dem jene Beamte vor ihren Computern sitzen, die ihn mit den aktuellsten Bildern, Videos und Berichten von der Straße versorgen und das Material auf zwei Leinwände projizieren, die Semper immer im Blick hat.

Richtig brenzlig ist es hier am 24. Jänner 2014 geworden. Semper erinnert sich gut an das Datum. Es war keine Sternstunde der Wiener Polizei. Es war Freitagabend, die Nacht des Akademikerballs, an dem es bei Demonstrationen gegen den Burschenschafterball in der Hofburg zu Ausschreitungen in der Innenstadt gekommen war - inklusive Sachbeschädigung und Körperverletzung. "Wir waren immer eine Minute hinterher. Da waren wir nicht gut aufgestellt. Das muss man leider sagen", gesteht Semper. Vorbereitung ist alles. Nach diesem Grundsatz lebt seine Einheit. Je spontaner eine Aktion, umso schwieriger der Einsatz.

Maximal zweiStunden Zeit

"Wir wissen, dass die ersten Stunden die schwierigsten sind, um einen Überblick zu kriegen. Gibt es mehrere Täter? Befinden sich Mittäter auf der Flucht? Das sind Fragen, die man vorab abklären muss, bevor man eine Gefahreneinschätzung machen kann", skizziert Semper das Prozedere bei einem etwaigen Anschlag.

Maximal zwei Stunden Zeit gibt sich die Polizei für diesen Überblick. Erst dann geht sie mit Informationen an die Öffentlichkeit. Es ist ein ehrgeiziges Unterfangen. Doch in Zeiten von Social Media bleibt der Polizei nichts anderes übrig, als schnell zu handeln. Semper weiß um die Macht der Twitterblase. Wie sie falsche Informationen verbreitet - sei es aus Unwissenheit oder Kalkül - und wie sie die Hysterie mit Spekulationen weiter befeuert und gar die Ermittlungsarbeit behindert.

Schon vor der Twitteria stand die Polizei vor diesem Dilemma. Seit 40 Jahren ist Semper nun Polizist. Er erinnert sich an einen Überfall vor 20 Jahren auf ein Kindermodengeschäft im 19. Bezirk, bei dem der Täter einen Polizisten erschossen hat. Die Nachricht wurde prompt im Radio vermeldet. "Das war die schlechteste Nachricht, die wir uns wünschen konnten. Denn was heißt das für den Täter? Er hat nichts mehr zu verlieren. Das sind Botschaften, die nicht rüberkommen dürfen, weil sie das Einschreiten für uns schwieriger machen", erklärt Semper. Aus diesem Grund würde die Polizei auch sehr sparsam mit ihrer Information umgehen, so wie jüngst bei einem Juwelierräuber, der sich angeblich in einem Hotel auf der Landstraßer Hauptstraße verschanzt haben soll. Der Vorfall war unmittelbar nach dem Amoklauf in München. Die Polizei hat die Straße abgesperrt. Und den Anrainern nicht erklärt warum. Nervös standen die Männer und Frauen vor den Absperrungen. "Es ist aus taktischen Gründen vernünftiger, wenn wir nur die Maßnahme, aber nicht den Hintergrund gleich erklären", sagt Semper. Jede Information könnte unmittelbar im Netz enden, und damit auch für den Täter oder Komplize mitverfolgt werden. "Hier dürfen Sie nicht durch, muss in dieser Situation reichen", konstatiert Semper.

Doch er weiß, dass die Nerven in der Bevölkerung blank liegen. Dass überall gleich das Schlimmste vermutet wird. Nicht umsonst wird die Polizei in den vergangenen Monaten immer öfter gerufen, um sich verdächtiger Gegenstände anzunehmen. Ein herrenloses Paket da, ein dunkler Koffer dort. Gelegentlich erlauben sich "Scherzkekse" auch Aktionen, in dem sie zwei Flaschen auf der Straße platzieren und sie mit einem Draht verbinden. Doch für Ironie ist dieser Tage kein Platz. Alles ist verdächtig. Und sorgt für Panik. Bei jedem Anruf rücken Sempers Leute aus, müssen den "Gefahrenbereich" absperren, Leute evakuieren und den verdächtigen Gegenstand untersuchen. Mal macht das ein Sprengstoffexperte, mal ein Roboter. Gelegentlich wird der Gegenstand auch mit einem Wassergewehr aus der Ferne aufgeschossen. Am Ende ist es dann doch nur ein herrenloses Paket und ein dunkler Koffer. "Gott sei Dank", sagt Semper. Ausrücken tun seine Leute trotzdem jedes Mal. "Ich sage: Lieber einmal zu viel als einmal zu wenig."

Was lernen wiraus München?

In München gab es viel Applaus für die Vorgehensweise der Polizei. Souverän und zeitgemäß hätte man die Bevölkerung in der Nacht des Amoklaufs informiert. Dutzende Tweets hat die Polizei versendet - und das in vier verschiedenen Sprachen. Beeindruckt hat das Franz Semper. Nach jedem Vorfall konferiert er mit den heimischen Kollegen über das Geschehene im Ausland. Geht eine Gefahr für Wien aus? Was lässt sich für die hiesigen Verhältnisse von den ausländischen Kollegen abschauen? "Das mit den sozialen Medien in München hat uns gut gefallen. Und wie die Polizei 2300 Leute so schnell auf die Beine gestellt hat", sagt Semper. Es klingt anerkennend. Und nachdenklich.

München war anders als alle bisherigen Vorfälle. München war nah. Sehr nah. Ob ihm das Bauchweh bereitet hat? Semper überlegt kurz. Wieder kommt der Arzt zum Vorschein, der mit seinem Patienten spricht: "Bauchweh hilft nichts. Es ist unsere Arbeit, die muss man seriös abarbeiten. Für Bauchweh ist meistens keine Zeit."