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Vom Philosophen Max Scheler (1874 bis 1928), dem Mitbegründer der "Werteethik", erzählt man sich folgende Anekdote: Scheler soll gelegentlich gegen die guten Sitten verstoßen haben. Auf die Diskrepanz zwischen seinem Handeln und den moralischen Forderungen, die er in seinen Schriften aufgestellt hatte, angesprochen, habe er gemeint: "Haben Sie schon einmal einen Wegweiser gesehen, der den Weg geht, den er weist?"
Im Spiegel dieser Anekdote zeigt der jüngste Vorstoß von Integrationsminister Sebastian Kurz sein wahres Gesicht: Kurz will die Integration anerkannter Flüchtlinge durch "verpflichtende Werteschulungen" forcieren. Die Verfassungswerte Menschenwürde, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Rechtsstaat und Demokratie sollen sie lernen, dazu noch ein bisschen Geschichte und Geografie Österreichs, die Einhaltung von Ruhe- und Nachtzeiten sowie Mülltrennung. Kurz will dies als Mitglied einer Regierung, die munter daran arbeitet, die "europäischen Werte", auf denen auch die österreichische Gesellschaft aufbaut, zu untergraben, und als Mitglied einer Partei, die ihre Probleme mit der Gleichberechtigung hat (Stichwort: keine Frau in der ÖVP-geführten oberösterreichischen Landesregierung).
Familien in Lebensgefahr
Um es an einem aktuellen Beispiel festzumachen (es ließen sich mehrere nennen): Die "Familie" gilt vielen Menschen in unserem Lande, nicht zuletzt in der ÖVP, als hoher Wert. Zu Recht. In Artikel 16 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte ist der Anspruch auf Schutz der Familie durch Staat und Gesellschaft verbrieft. Dieser Anspruch begründet Gewährleistungspflichten des Staates, die institutionellen und materiellen Voraussetzungen für die volle Realisierung des Familienlebens zu schaffen. Kurzum: Familiennachzug ist ein menschenrechtlicher Standard. Wenn Familienzusammenführung für subsidiär Schutzberechtigte, wie in der jüngsten Asylrechtsverschärfung vorgesehen, erst nach drei Jahren und nur, wenn sie ein Nettoeinkommen von 1307,89 Euro für Ehepaare plus 134,59 Euro für jedes Kind nachweisen können, möglich sein soll, dann ist das ein massiver Eingriff in das Menschenrecht auf Familie.
In letzter Konsequenz ist diese Maßnahme auch dazu angetan, das "Recht auf Leben, Freiheit und Sicherheit der Person" (Artikel 3 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte) auszuhöhlen. Die Diakonie hat bereits darauf hingewiesen: Bisher entscheiden sich viele Familien dafür, das "stärkste" Familienmitglied vorauszuschicken. Hat es dieses nach Europa geschafft und Schutz zugesprochen bekommen, versucht es die übrige Familie nachzuholen. Das spart Schlepperkosten und ist sicherer für die Kinder, gelingt allerdings selten genug. Tritt nun das neue Gesetz in Kraft, werden sich wohl viele Familien aus Angst, getrennt zu werden, gemeinsam auf den lebensgefährlichen Weg machen. Die Bilder der Toten, auch der toten Kinder, die das Mittelmeer ausgespuckt hat, kennen wir. Sie werden nicht weniger werden.
Was sind "unsere" Werte?
Die Werteschulung bräuchten Asylberechtigte nicht, weil sie schlechte Menschen seien, meint Kurz. Sondern weil sie "andere Wertvorstellungen" hätten, mit "unseren" Werten nicht vertraut seien. Abgesehen davon, dass das eine Unterstellung ist, die die Funktion hat, zwischen "uns" und "den anderen" zu unterscheiden, stellt sich die Frage: Was sind denn "unsere" Werte? Im Wertekatalog, den der Integrationsminister gelernt wissen will, steht Mülltrennung neben Demokratie, geografische Heimatkunde neben Menschenwürde, Nachtruhe neben Rechtsstaatlichkeit. Eine eigentümliche Aufzählung, die uns mitten ins Zentrum der Wertedebatten führt.
Der Wertebegriff ist ein schillernder. Ursprünglich aus der Ökonomie stammend, fand er erst im 19. Jahrhundert Eingang in die Philosophie und Ethik. Allgemein gesprochen sind Werte Leitvorstellungen, nach denen Individuen und Gruppen ihr Handeln ausrichten. Werte sind subjektiv, relativ und plural. Werte können einander widersprechen und in Konflikt miteinander geraten. Werte können sich wandeln, müssen ständig überprüft und gegeneinander abgewogen werden. Sie fallen nicht vom Himmel, sondern werden gebildet.
Gebildet werden Werte auf verschiedene Weisen: Autoritäten können sie vorschreiben - das scheint mir das Modell Kurz zu sein. Sie können auch das Resultat gesellschaftlicher Konventionen sein, wie etwa Mülltrennung oder Nachtruhe. Schließlich können Werte durch demokratisch geführte Diskurse geformt werden. So sind auf globaler Ebene die Menschenrechte und auf nationaler Ebene die Verfassungswerte entstanden. Menschenrechtskonventionen und Verfassungen schaffen einen verlässlichen Rahmen, innerhalb dessen Individuen wie Gruppen nach dem, was ihnen jeweils und höchstpersönlich "wert-voll" ist, entscheiden und handeln können. Das funktioniert nur, wenn Menschenrechte und Verfassungswerte universal gelten und vor allem beständig eingemahnt und mit Leben gefüllt werden.
Wie Wertevermittlung gelingt
In diesem Sinne ist Wertevermittlung unabdingbar für ein gedeihliches gesellschaftliches Zusammenleben. Allerdings wird sie im Modus der Vorschreibung verpflichtender Schulungen durch staatliche Autoritäten nicht gelingen. Zum einen muss Wertevermittlung, wenn sie den Verfassungswert Demokratie nicht unterlaufen soll, in dialogischer Form passieren. Und im Gespräch werden wir vielleicht feststellen, dass Asylsuchende, denen wir unsere Werte vermitteln wollen, aus ihren Herkunftsländern geflohen sind, weil sie dort Rechtsstaatlichkeit, Demokratie, Sicherheit und Freiheit vermissen, weil sie genau das suchen. Zum anderen wird Wertevermittlung nur gelingen, wenn Politiker bereit sind, den Weg, den sie mit ihren Wertewegweisern ausschildern, auch selbst zu gehen.