Der deutsche Volksaufstand 1953 und sein Einfluss auf Österreich.
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Als der Volksaufstand in Ostberlin und in vielen anderen Städten der DDR losbrach, hielt sich Westberlins Regierender Bürgermeister Ernst Reuter nicht in seiner Heimatstadt auf, sondern in Wien. Berlin und Wien hatten in dieser Zeit viel gemeinsam, waren zugleich aber in einer sehr unterschiedlichen Situation. Beide hatten dieselben vier Besatzungsmächte (USA, Großbritannien, Frankreich und die Sowjetunion), auch das Überschreiten der Zonengrenzen war möglich, aber die Rahmenbedingungen unterschieden sich grundsätzlich.
Nach der Gründung von BRD und DDR im Jahr 1949 blieb Westberlin eine demokratische Insel in einem kommunistischen Umland. Aus dieser freien Stadt erreichte der Sender RIAS (Rundfunk im amerikanischen Sektor) weite Teile Ostdeutschlands. Vom US-Direktor gebremst, wurden die ausgestrahlten Nachrichten dennoch zum Katalysator des Aufstands. Dies bestätigte der spätere Architekt der Ostpolitik unter Bundeskanzler Willy Brandt, Egon Bahr, als damaliger Chefredakteur.
Die Aufstandsbewegung traf die Politiker in Westdeutschland und Westberlin völlig überraschend, so auch Ernst Reuter, der in Wien an einem internationalen Städtetag teilnahm. Seine schon für 16. Juni von ihm gewünschte Rückreise wurde von den Alliierten allerdings um zwei Tage verzögert. Die SPÖ nutzte die zeitliche Gelegenheit, um mit dem SPD-Bürgermeister in Wien-Meidling eine Volksversammlung abzuhalten. Reuter wies in seiner Rede, die auch nach West-Berlin übertragen wurde, auf die ungleich günstigere Situation Wiens im Vergleich zu Berlin auch hinsichtlich des Wiederaufbaus hin.
Michael Gehler und Rolf Steininger stellen in ihrem gemeinsamen Buch "17. Juni 1953. Der unterdrückte Volksaufstand" jedoch einen größeren Zusammenhang her, indem sie eine Vor- und Nachgeschichte mit weiteren Österreich-Bezügen bieten. Ausgangspunkt sind zwei diplomatischen Noten der Sowjetunion an die drei westlichen Alliierten, in denen eine mögliche "Koalitionsfreiheit" Deutschlands angesprochen wurde. Es ist zweifelhaft, ob damit ein ernsthaftes Angebot zur Vereinigung Deutschlands bei gleichzeitiger Neutralität gemeint war. Die Relevanz für Österreich ergibt sich aber aus dem Wunsch der UdSSR nach einer Verknüpfung eines Staatsvertrags für Österreich mit einem Friedensvertrag für Deutschland. Dies erklärt auch, warum es für unser Land so schwer und langwierig war, das die endgültige Freiheit bringende Dokument zu erlangen.
West-Integration der BRD
Tatsächlich war das mögliche Angebot rasch vom Tisch, denn der deutsche Kanzler Konrad Adenauer (CDU) lehnte es sofort rundweg ab. Es passte ihm überhaupt nicht ins Konzept: Sein Ziel war die West-Integration der BRD. Dieses wurde aber erst mit der Nato-Mitgliedschaft seines Landes 1955 erreicht. Die Entscheidung des Kanzlers war aber nicht unumstritten. Es gab sehr wohl Stimmen, die sich für eine nähere Betrachtung des Vorschlags aussprachen. Zu ihnen gehörte unter anderem sein Parteikollege Jakob Kaiser, der Bundesminister für gesamtdeutsche Fragen.
Kam die Bündnisfreiheit oder eben letztlich die Neutralität für Deutschland nicht näher in Erwägung, so war dies für Österreich schon ein Thema. Bereits früher von verschiedenen Seiten noch ohne große Chance auf Verwirklichung ventiliert, wurde diese Option zunehmend nach dem Tod Josef Stalins am 5. März 1953 auch von der Umgebung des neuen Parteichefs Nikita Chruschtschow ins Auge gefasst und schließlich im Moskauer Memorandum vom 15. April 1955 als Bedingung für den am 15. Mai unterzeichneten Staatsvertrag festgelegt. Entsprechend wurde das Neutralitätsgesetz nach Ablauf der vorgesehenen Fristen am 26. Oktober vom Nationalrat im Verfassungsrang beschlossen.
Wenngleich in den Verhandlungen zuvor vielfach von Neutralität nach Schweizer Muster die Rede war, schlug Österreich schon wenige Wochen danach mit dem Beitritt zur UNO einen anderen, aktiveren Weg ein. Dennoch gab es nicht sofort bei allen politisch Handelnden das Verständnis, wer und in welcher Form vom Neutralitätsgesetz betroffen wäre.
Kanzler Julius Raab (ÖVP) hielt zwar unmissverständlich fest, dass die Neutralität den Staat, aber nicht den Staatsbürger binde (was er offensichtlich als allgemeine Redefreiheit verstand), so ließ Innenminister Josef Afritsch (SPÖ) per Weisung einem aus der Slowakei stammenden Professor bei einer wissenschaftlichen Tagung in Innsbruck ein Redeverbot erteilen. Der Veranstalter, das Forschungsinstitut für den Donauraum, erhob dagegen Beschwerde beim Verfassungsgerichtshof und bekam Recht, da nach dem Erkenntnis des Höchstgerichts eine derartig weitgehende Auslegung der österreichischen Neutralitätserklärung unzulässig wäre.
Identitätsstiftende Neutralität
Nach Klärung solcher Abwege wurde die Neutralität Mitte der 1960er Jahren zunehmend identitätsstiftend. Dies ging einher mit der größer werdenden Akzeptanz der österreichischen Nation. So passt es ins Bild, dass erst zu diesem Zeitpunkt der 26. Oktober als Nationalfeiertag vom Parlament beschlossen wurde. Dass die Sowjetunion mit dem Hinweis auf die Neutralität eine EWG-Mitgliedschaft blockierte, wurde hingenommen. Dafür sonnte man sich in der internationalen Aufmerksamkeit bei in Österreich stattfindenden Gipfeltreffen und folgte Bruno Kreiskys aktiver Außenpolitik überwiegend zustimmend.
Kaum wahrgenommen wurde von großen Teilen der Bevölkerung die weitgehende Einschränkung des Neutralitätsgesetzes anlässlich des EU-Beitritts bis zum Vertrag von Lissabon. Verfassungsmaterien sind zugegebenermaßen komplex, und die Beistandsklausel aus dem Jahr 2009 für EU-Länder nach Artikel 42, Absatz 7 würde wahrscheinlich nur allgemeines Schulterzucken auslösen. Tatsächlich ist darin eine sehr weitgehende Verpflichtung enthalten, wenngleich Neutrale das Ausmaß der Umsetzung selbst festlegen können.
Insgesamt ist Österreich fast 70 Jahre mit der Neutralität gut gefahren. Boshafte mögen ergänzen: auf dem Trittbrett. Man hat sich gerade bei den Militärausgaben nicht an der Schweiz orientiert, sondern hat diese auf ein Minimum reduziert. Der Trendwende im Budget müsste noch eine Änderung im Auftreten von Politikern folgen. Damit ist gemeint, zu betonen, in welchen Bereichen Österreich bereit ist, konstruktiv mit den anderen EU-Ländern zusammenzuarbeiten und nicht über Gebühr die Neutralität als Ausrede zu gebrauchen, auch wenn verfassungsmäßig kein Einwand bestünde.
Bei der Stimmungslage in der Bevölkerung ist es wahrscheinlich zu viel verlangt, den Abschied von der Neutralität öffentlich zu diskutieren. Aber die bestehenden rechtlichen Möglichkeiten zu nutzen, kann man doch erwarten. Sich für Europa und die Menschenrechte einzusetzen, sollte doch als Ziel wichtig genug sein.