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US-Ökonom Peter Temin erklärt, was der Getreideimport aus den USA mit Europas Faschismus zu tun hat.
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Der US-Amerikaner Peter Temin ist ein angesehener Ökonom und Historiker, der unter anderem viel über die Große Depression der 1930er Jahre publiziert hat. Die "Wiener Zeitung" sprach mit Temin über Parallelen der Wirtschaftskrisen, weshalb Großbritannien nicht faschistisch wurde und ob die griechische Syriza-Regierung eine Zäsur in der Geschichte bedeutet.
"Wiener Zeitung":Wenn Sie die Wirtschaftskrise der 1930er Jahre und heute vergleichen, welche Gemeinsamkeiten fallen Ihnen auf? Peter Temin: Es gab damals und heute sehr viele betroffene Menschen. Und die Krisen dauern sehr lange an. Eine andere Gemeinsamkeit ist, dass in Krisenzeiten das Fußvolk am meisten leidet. Kriege werden von Infanteristen ausgetragen, die es immer am meisten zu spüren bekommen. Und Wirtschaftskrisen haben den gleichen Effekt auf die "kleinen Leute", die ihre Arbeit oder ihr Haus verlieren und vor den Trümmern ihrer Existenz stehen. Eine zweite Parallele ist, dass die Verluste auch das Vermögen der Reichen betreffen und damit direkt deren Unternehmen beeinflussen. Das wirkt sich entscheidender auf das operative Geschäft aus, als viele glauben.
Inwiefern?
Jedes Unternehmen hat eine Bilanz mit Aktiva und Schulden. Normalerweise sind die Aktiva größer als die Schulden. Aber wenn sich das Vermögen halbiert, kann es leicht dazu kommen, dass die Schulden auf einmal das Vermögen übersteigen und das Eigenkapital ins Negative dreht. Damit müssen sie eigentlich den Betrieb aufgeben. Also suchen sie Hilfe. Sie besorgen sich ein paar schnelle Vermögenswerte, um sie in ihre Bilanz zu schaufeln, damit es so aussieht, als wäre das Nettovermögen weiterhin positiv. Sie versuchen die Fakten zu biegen, sie bewerten die Assets neu, sie versuchen, den Status zu verschleiern. Das wirklich wichtige volkswirtschaftlich gesehen ist aber, dass das Unternehmen vollkommen damit beschäftigt ist, die Bilanz zu polieren, sodass keine Zeit bleibt, neue Investitionen zu machen, Menschen einzustellen, und der Wirtschaft auf die Sprünge zu helfen. Und deswegen dauern die finanziellen Aspekte nach einer Krise noch einmal nach.
Der finanzielle Aspekt der Krise zeigt sich später als das, was überall als Krise tituliert wird?
Genau. Die Realisierung der Unternehmensprobleme dauert an. Jetzt heißt es: "Die Krise ist vorbei" - aber die Krise ist nicht in diesen Unternehmen vorbei. Man kann Analogien ziehen zu den Menschen in den USA, und vielleicht in Südeuropa, die Geld durch Hypotheken verloren haben. Diese Menschen haben ein ähnliches Problem wie die Firmen. Sie sind darauf fokussiert, ihr normales Leben wiederzuerlangen. Um dahin zu kommen, konsumieren sie nur wenig, sie sparen Geld, und das ist genau das, was die Unternehmen nun tun: Sie halten sich bei ihren Investitionen zurück, deren Art des Konsums. Und das zieht sich.
Von den USA heißt es gemeinhin, dass das Land die Krise - mit einem großen Abschwung zwischendrin - inzwischen gut verdaut hat.
Naja. In den USA wird die derzeitige Situation nicht über die - gelobte - Arbeitslosenrate abgebildet, da diese Größe nur Leute umfasst, die aktiv nach Arbeit suchen. Wenn die Menschen enttäuscht aufgeben, werden sie nicht mehr mitgezählt. Wenn man sich aber die Rate ansieht, wie viele Menschen in einer Bevölkerungsschicht in einem Beschäftigungsverhältnis sind, dann sehen Sie, dass diese Beteiligung nach der Krise stark abgefallen ist. Und jetzt, da in den USA die Arbeitslosenrate wieder hinuntergegangen ist, ist die Rate der Personen, die in einem Beschäftigungsverhältnis stehen, nicht nach oben gegangen. Da herrscht ein riesiger Unterschied zwischen vor und nach der Krise. Es gibt sehr viele entmutigte Menschen, die unglücklich sind. Und wenn Menschen unglücklich sind und wählen gehen - natürlich, manchmal sind sie so entmutigt, dass sie gar nicht wählen gehen, aber falls, dann wird die Politik oft radikal geändert. Manchmal sind es gute Änderungen, manchmal schlechte. Man kann es im Vorfeld nicht sagen, wie es ausgehen wird.
Was sind die Unterschiede zwischen jetzt und der Großen Depression?
In der Großen Depression waren viele betroffene Personen Bauern. In den USA, aufgrund der Grenzziehung der Bundesstaaten, ist die Stimme der Farmer sehr stark, die urbanen Ballungsräume hingegen tendieren dazu, an den Küsten zu sein. Nun braucht man weniger Stimmen, um in Iowa oder in North Dakota einen Senator zu wählen, als in Pennsylvania oder Massachusetts. Also wurde der Stimme der Farmer große Beachtung geschenkt, denn die wog schwer. Der Schwarze Freitag 1929, der Beginn der Wirtschaftskrise, fiel in die Amtszeit des Republikaners Herbert Hoover. Der Demokrat, der ihn bei den Wahlen abgelöst hat, Franklin D. Roosevelt, versuchte, die Menschen aus ihrer Zwangslage zu befreien. Da wurde ein System installiert mit vielen Garantien und Bürgschaften, neuen Krediten und Schulderlässen auf einem ganz niedrigen Niveau. In Bezug auf solche Maßnahmen war die Wirtschaftspolitik in den 1930er Jahren besser. Einfach objektiv aus wirtschaftlichen Gesichtspunkten: Heute denken die Menschen nur an den finanziellen Teil, aber nicht an den Konsumbereich. Aber damals bedachte man den Konsumbereich mit. Okay, das ist vielleicht zu hart formuliert: Heute denken sie schon an den Konsum, aber sie machen nichts dafür. Wir wissen, dass die Administration unter US-Präsident Barack Obama einen schier endlosen Strom an ineffektiven Maßnahmen beschlossen hat. Und wieso sind sie ineffektiv? Weil noch nicht genügend Luft zum Atmen vorhanden ist: Befreit man die Farmer oder Hausbesitzer von ihren Schulden, bedeutet das, dass die Finanzwelt, die diese Kredite ausgestellt hat, einen Teil der Kosten schultern muss. In den 1930er Jahren hat die Regierung diese Kosten getragen, beziehungsweise die Kosten in der Bevölkerung verteilt. Ich glaube, das war angemessen, weil dank dieser Politik haben sich alle wirtschaftlich erholen können. Heutzutage funktioniert Politik anders.
Wieso sind die heutigen Hypothekenbesitzer nicht so mächtig, wie die damaligen Farmer?
Menschen, die ihre Hypothek nicht bezahlen können, sind politisch nicht so stark vertreten.
Weil sie nicht mehrere Bundesstaaten dominieren, sondern eher verstreut sind?
Genau. Also kümmert es die Regierung in der Essenz weniger, weil sie natürlich jenen Personen dient, die ihr geholfen haben, an die Macht zu kommen. Dazu kommt die finanzielle Frage. Wir haben derzeit ein hohes Ungleichgewicht bei Einkommen und Menschen mit Geld haben mehr Einfluss. Das hat zuletzt der Oberste Gerichtshof einzementiert, mit seinem Urteil, dass Geld mit Redefreiheit gleichzusetzen ist ("Money is speech", Anm.). Das bedeutet, dass Wahlkampfspenden nicht begrenzt werden dürfen. Das bedeutet auch, dass die Regierung den Interessen der finanzstarken Bevölkerung mehr Gehör schenkt, als denen der normalen Häuslbauer.
Das beendet aber nicht den Teufelskreis: Wer Schulden hat, konsumiert nicht. Das bremst die Erholung der Wirtschaft. Und es sind ja nicht nur die Hypotheken das Problem, in den USA haben wir die größten Schwierigkeiten mit Studienkrediten, die junge Menschen abarbeiten müssen.
Sie erwähnten bereits, dass in Krisenzeiten der Wechsel in der Politik extrem sein kann. In Europa haben sich in den 30er Jahren viele Länder dem Faschismus zugewandt. Wieso nicht auch Großbritannien?
Ob man faschistisch wird oder nicht, ist eine Frage des langfristigen Fortschritts, denn Wirtschaften verändern sich im Zuge der Verbreitung der Industrialisierung und dem Niedergang der Landwirtschaft. Die dazugehörigen Politiken verändern sich ebenfalls. Das wird eine sehr lange Antwort. Denn man muss dazu in das 19. Jahrhundert zurückgehen: In den 1880ern kam amerikanischer Weizen auf den europäischen Markt, denn die amerikanische, mit Dampf betriebene Schifffahrt hat den Transport extrem verbilligt. Die Länder mussten sich entscheiden, ob sie die Einfuhr von US-Weizen erlauben. Die Briten ließen den Import zu. Das hat zwar den britischen Bauern ganz gewaltig geschadet - aber die Industrialisierung begünstigt. Kontinentaleuropa verfügte zu dem Zeitpunkt über noch viel mehr Landwirte, die auch politische Macht hatten. Also wurden Zölle hochgezogen, um den amerikanischen Weizen draußen zu halten. Das veränderte sich in den nächsten fünfzig Jahren bis nach dem Ersten Weltkrieg nicht groß. In den 1930ern leckten die Länder noch ihre Wunden, die der Krieg hinterlassen hat. Und die Staaten hatten das, was ich ein "Entwicklungsdefizit" nenne. Denn sie waren noch nicht in der Situation, in der sie gezwungen gewesen wären, den Industrie-Anteil nach oben zu schrauben und den Anteil der Landwirtschaft an der Wirtschaft herunterzufahren.
Also gab es in Europa noch viele Personen, die von der Landwirtschaft lebten. Und als 1930 die Deflation kam, waren besonders die Landwirte getroffen, denn Agrarprodukte sind besonders flexibel und sensitiv bei Währungsschwankungen. Daher war das Leid sehr groß. Und Leidende favorisieren generell radikalere Lösungen. In Italien und in Deutschland sind die Faschisten ganz legitim an die Macht gekommen, in Großbritannien gab es bloß einen Regierungswechsel, den wir nicht als Umbruch bezeichnen können. Man muss aber erwähnen, dass die Briten schon sehr lange ein parlamentarisches System hatten. Italien und Deutschland wurden erst 1870 geeint.
Ist der Machtwechsel in Griechenland mit der neuen linken Partei Syriza ein Umbruch oder nur ein Regierungswechsel?
Ha! Das ist die Frage, die gerade jeden bewegt. Und ich weiß die Antwort auch nicht. Wenn die Menschen unglücklich sind, wählen sie neue Personen. Wenn wir uns jetzt Syriza ansehen: Ja, das sind neue Leute an der Macht. Aber wenn wir ihre Positionen betrachten, muss ich sagen, das sind Sozialdemokraten, keine Faschisten. In Frankreich klingt hingegen Marine Le Pen vom Front National überhaupt nicht wie eine Sozialdemokratin. Kommt sie an die Macht, können wir nicht abschätzen, was passieren wird. Das könnte drastische Folgen nach sich ziehen.
Peter Temin Jahrgang 1937, ist emeritierter Professor (und ehemaliger Vorstand des Wirtschaftsinstituts) am Massachusetts Institute of Technology (MIT). Er ist Autor zahlreicher Bücher.