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Menschenrechtssituation im sunnitischen Königreich hat sich drastisch verschlechtert - seit Jahresbeginn gab es mehr als 135 Hinrichtungen.
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Riad/Wien. Menschenrechtsorganisationen schlagen erneut Alarm: "Die Lage in Saudi-Arabien wird immer schlimmer, und niemand tut etwas dagegen", so der Tenor. Nach Angaben von Human Rights Watch (HRW) und anderen Menschenrechtsorganisationen hat der Ölstaat seit 1. Jänner 2015 bereits 135 Menschen hingerichtet, 46 mehr als im gesamten Jahr 2014 (siehe Grafik). Das ist die höchste Zahl in den vergangenen zehn Jahren.
Bei den allwöchentlichen "Zeremonien", die meist auf einem öffentlichen Platz abgehalten werden, soll die Bevölkerung signalisiert bekommen, was passiert, wenn man gegen das Gesetz verstößt. Die Krönung des "Spektakels" ist der wichtige Ausspruch des Scharfrichters "bis der Kopf auf das Deckenlager fällt". Danach kommen die Arabischen Klingen zum Einsatz.
Auf die internationale Kritik reagiert Riad sehr gereizt und offenbar mit einer "Jetzt erst recht"-Strategie. Dutzende sehr gut bezahlte neue Todeshenker werden über offizielle Internetseiten der Ministerien gesucht. Sogar die Intervalle für die Vollstreckungen wurden verdichtet.
So wird in Saudi-Arabien nach dem Tod von König Abdullah, also seit dem Amtsantritt seines Halbbruders Salman (81), mittlerweile nicht nur freitags, sondern auch dienstags und donnerstags geköpft, ausgepeitscht und gesteinigt.
Einer von den Betroffenen war vor wenigen Tagen Ali Assiri. Der saudische Mann wurde in der südlichen Stadt Abha wegen des Mordes an einem Gefängnispolizisten geköpft. Alle Bitten seiner Angehörigen, ihn zu begnadigen und seine Strafe in eine Gefängnisstrafe zu verwandeln, blieben erfolglos.
Das ultrakonservative Herrscherhaus, das auch das für die Hinrichtungen zuständige Innenministerium führt, macht bei den zumeist öffentlichen Vollstreckungen auch keinen Halt vor Ausländern. Amnesty International nennt Saudi-Arabien neben China, dem Iran, dem Irak und den USA als jenes Land, wo am meisten hingerichtet wird. Die Hauptgründe für die Köpfungen basieren auf dem strengen Sitten- und Rechtskodex der Scharia, der Basis für die saudische Rechtssprechung: Vergewaltigung, Drogenschmuggel oder -handel, Raub, Mord, Rebellion, Homosexualität.
Westliche Medien haben schon darauf hingewiesen, dass Saudi-Arabien der einzige Staat der Welt ist, der wie die Dschihadistenmiliz IS Enthauptungen vornimmt. Auch im Fall des regimekritischen Bloggers Raif Badawi denkt Riad nicht daran, einzulenken. Dieser war wegen seinen Blogs zu 1000 Peitschenhieben verurteilt worden. 50 davon wurden vollstreckt, auf den Rest der Strafe wartet der Aktivist seit mehreren Monaten in einem Gefängnis in Jeddah.
Nach internationaler Kritik am Umgang mit Badawi reagierte das saudische Außenamt ebenfalls sehr erbost: "Wir verbitten uns jegliche Einmischung in unsere Rechtssprechung und werden uns sicherlich nichts vorschreiben lassen", hieß es in einem Statement. Makaberer Nachsatz: Die geltende Rechtsprechung, die Scharia, garantiere die Menschenrechte. Dennoch hat das Europaparlament Badawi am Donnerstag mit dem Sacharow-Preis ausgezeichnet und damit seinen mutigen Einsatz für Meinungsfreiheit und Toleranz gewürdigt.
Amnesty International wirft dem Westen allerdings Heuchelei und Untätigkeit vor. "Bei der politischen Zusammenarbeit schützt Geld und Öl Saudi-Arabien noch immer vor jeder kritischen Beleuchtung der Menschenrechtslage. Die USA und die EU messen hier mit zweierlei Maß", so der Generalsekretär von Amnesty Österreich, Heinz Patzelt, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
"Während man etwa beim Iran und hinsichtlich der Menschenrechtsverletzungen in der Islamischen Republik superkritisch ist, drückt man bei Riad immer ein Auge zu, denn man will es sich mit den Saudis ja nicht verscherzen", ergänzt er.
"Köpfungen sind systemerhaltend"
Ganz offensichtlich sei auch, dass bei arabischen Staaten die Todesstrafe nicht primär als strafrechtlich-barbarisches, sondern als Instrument der politischen Machterhaltung diene.
Dies sei eine systemerhaltende Maßnahme innerhalb absolutistischer Systeme. Bei Saudi-Arabien komme eben durch die öffentliche Vollstreckung und die barbarische Vorgangsweise die unterdrückende Komponente hinzu, unterstreicht Patzelt. Ein Trend, den das Magazin "Economist" 2011 publizierte, setzt sich jedenfalls auch 2015 fort: Damals war Saudi-Arabien in einem Demokratie-Ranking auf Platz 161 von 167 Ländern gelandet.
Im Rechtssystem basiert der Alltag auf der strengen wahhabitischen Auslegung des Islam. Schon die Verfassung und die Gesetze in Saudi-Arabien verheißen klare Regeln. So ist es laut saudischen Religionsführern nicht Aufgabe der Regierung, "Konsens innerhalb der Bevölkerung herzustellen", sondern - nach Auffassung der "reinen Lehre" - "die Gebote und Verbote Gottes im gesellschaftlichen Leben zur Geltung zu bringen". Saudi-Arabien hat die Menschenrechtscharta der UNO unterzeichnet, laut der nur bei Mord die Todesstrafe angewandt werden darf. Laut HRW wurde aber auch für gewaltfreie Drogendelikte in dutzenden Fällen die in Saudi-Arabien geltende Höchststrafe verhängt. Die nächsten drei Köpfungen sollen bereits im Laufe dieser Woche über die Bühne gehen.
Was der Westen bei der extremistischen Terrormiliz IS als barbarisch verurteilt, ist hier Bestandteil des Alltags.
Die Menschenrechtssituation in Saudi-Arabien hat auch zu einem diplomatischen Eklat zwischen London und Riad geführt. Der saudische Botschafter in Großbritannien hat Respekt für die islamische Rechtsprechung, die Scharia sowie die Verfassung seines Landes gefordert.
"Unser Rechtssystem basiert auf dem Recht der Scharia und wird von unserer unabhängigen Justiz durchgesetzt", schrieb Mohammed bin Nawaf bin Abdulaziz am Montag im "Daily Telegraph".
Sein Land erwarte dafür den selben Respekt, den es dem Recht und der Religion Großbritanniens entgegenbringe. Er warnte vor "potenziell ernsthaften Folgen" für die strategische Partnerschaft der beiden Staaten.
Auch in Großbritannien hatte Badawis Schicksal für Empörung gesorgt. Auch einem 74 Jahre alten Briten drohten 350 Peitschenhiebe wegen illegalen Alkoholbesitzes. Immerhin gelang es dem britischen Außenminister bei einem Besuch in Riad, einen Straferlass und seine Ausreise nach Großbritannien zu erwirken.
"Es reicht, wir dürfen nicht mehr zusehen, der Westen muss endlich etwas machen und handeln", fordert die im kanadischen Exil lebende Ehefrau Badawis, Ensaf Haidar, im Gespräch mit der "Wiener Zeitung".
Ensaf Haidar nimmt westliche Politiker in die Pflicht
Sie fordert österreichische und europäische Spitzenpolitiker auf, ihren Einfluss bei König Salman geltend zu machen, um einerseits die sofortige Freilassung und die Erlaubnis für die Ausreise ihres Mannes zu erwirken, und um andererseits eine Verbesserung der saudi-arabischen Menschenrechtssituation einzufordern.
Doch die Saudis denken nicht daran, etwas in ihrer Politik zu ändern, weder in der Menschenrechts- noch in der Flüchtlingsfrage. Der saudische Botschafter wehrte sich im selben Kommentar für die britische Zeitung auch zudem gegen Schuldzuweisungen. Vorwürfe, Saudi-Arabien übernehme nicht genug Verantwortung, seien haltlos. Das Königreich habe über 2,5 Millionen syrische Flüchtlinge aufgenommen und keine andere Nation sei engagierter im Kampf gegen Extremismus, so seine Replik.