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Der Westen, eine Gefahr für Odessa

Von WZ-Korrespondent Klaus Stimeder aus Odessa

Politik

Im russisch besetzten Teil der Republik Moldau eskaliert der Kreml zunehmend. Das gefährdet auch Odessa.


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Wie real die Gefahr wirklich ist, wagt niemand zu sagen; aber die Indizien, dass sich an der südwestlichen Grenze der Ukraine die Puzzlestücke häufen, die zusammengesetzt ein neues Bedrohungsszenario ergeben, sind dieser Tage kaum mehr zu ignorieren. Zwei Monate dauert der Krieg Russlands gegen die Ukraine mittlerweile an. Trotz beständigem Raketenbeschuss durch die Schwarzmeerflotte blieb der Südwesten des Landes, der die strategisch wie wirtschaftlich wichtige Hafenstadt Odessa beherbergt, bisher vergleichsweise verschont.

Während ukrainische Streitkräfte im nur hundert Kilometer küstenaufwärts liegenden Mykolajiw ihre Gegner aufrieben, ging das Leben Odessa, wo vor der Invasion eine Million Menschen lebten, weitgehend ungestört seinen Gang. Das durch den nur langsam vorankommenden Vorstoß der russischen Armee geöffnete Zeitfenster nutzte Odessa, um seine Verteidigung auszubauen.

Russische Streitkräfte in Alarmbereitschaft

Mit ihren allgegenwärtigen Panzersperren, mit Stacheldraht und Sandsäcken gesicherten Scharfschützen-Verhauen und einer stattlichen Zahl Flugabwehrkanonen gleicht die Stadt heute einer Festung. Auch wenn es seit Kriegsausbruch da und dort zu Scharmützeln kam - vor einem Monat versuchte nach Angaben des ukrainischen Militärs ein russisches Aufklärungs-Kommando per Schnellboot zu landen, dessen Mitglieder allesamt erschossen wurden -, blieb die Lage angespannt, aber weitgehend ruhig. Mit dieser relativen Ruhe scheint es nun vorläufig vorbei zu sein.

Die neue Gefahr droht indes nicht vom Meer und aus dem Osten, sondern vom Westen. Konkret aus Transnistrien, jenem Teil der Republik Moldau, den Russland seit 1992 besetzt hält und der seitdem von einem unter der Fuchtel Moskaus stehenden Marionettenregime regiert wird. Transnistriens Hauptstadt Tiraspol liegt lediglich zwei Autostunden von Odessa entfernt.

Seit Dienstagnachmittag jagt von dort eine Meldung die nächste. Die Ereignisse reichen von gesprengten Radioantennen, die von russischen Propaganda-Sendern genutzt wurden, über Anschläge auf das Hauptquartier der Staatssicherheit bis zu an die gesamte Bevölkerung Transnistriens (rund eine halbe Million Menschen) gesendete SMS, die vor einem bevorstehenden Überfall der ukrainischen Armee warnen. In der international nicht anerkannten Teilrepublik verfehlt die - mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit von Mitgliedern des russischen Geheimdiensts FSB inszenierte - Eskalationsstrategie seine Wirkung nicht. Am Mittwoch machten in den sozialen Medien an der internen Grenze zwischen der Moldau und Transnistrien aufgenommene Bilder die Runde, die lange Autokolonnen zeigen. Laut Informationen der ukrainischen Armee sei zudem das angeblich 1.500 Mann umfassende Kontingent der auf transnistrischem Boden stehenden russischen Streitkräfte in Alarmbereitschaft versetzt worden.

Die Zahl an Soldaten, über die Transnistrien selbst verfügt, wird auf 5.000 geschätzt. Angesichts der laufenden Ereignisse scheint klar, dass der Kreml mittlerweile nichts mehr unversucht lässt, um den Worten seiner Repräsentanten Taten folgen zu lassen. Namentlich denen von Rustam Minnekajew. Das hochrangige Mitglied des russischen Generalstabs teilte Ende vergangener Woche mit, dass man die Herrschaft über den gesamten Süden der Ukraine anstrebe und eine Landbrücke zu Transnistrien schaffen wolle. Laut Minnekajew werde die dort lebende russischsprachige Minderheit angeblich ebenso "unterdrückt" wie jene im Donbass.

Brücke von russischen Raketen zerstört

Wiewohl letztere Behauptung allen bekannten Fakten widerspricht, scheint es Russland mit der nächsten Phase der "Befreiung" dieser Leute jetzt zunehmend ernst zu meinen. Für diese These spricht die Tatsache, dass am Dienstag und Mittwochmorgen westlich von Odessa eine die dortige Dnister-Mündung überspannende Brücke von russischen Raketen zerstört wurde. Damit ist der Landweg in jene Region, entlang derer die ukrainische Grenze zu Rumänien verläuft, de facto vom Rest des Landes abgeschnitten. Obwohl unter hiesigen wie internationalen Militärexperten weitgehend Konsens darüber herrscht, dass der offensichtliche Plan der Russen, Odessa von drei Seiten in die Zange zu nehmen - aus dem Westen von Transnistrien, aus dem Osten im Fall eines Durchbruchs bei Mykolajiw und vom Schwarzmeer aus -, nach dem derzeitigen Stand der Dinge einem Himmelfahrtskommando gleichkäme, wagt es niemand, dieses Szenario dezidiert auszuschließen.

Das Problem bei der Einschätzung der tatsächlichen Lage gestaltet sich auch deshalb so schwierig, weil viele russische Kommandeure im Feld erwiesenermaßen bis heute der eigenen Regierungspropaganda glauben. Entsprechend oft treffen sie Entscheidungen, die sich vielleicht als öffentlichkeitswirksam erweisen, deren militärischer Sinn sich aber niemand außerhalb des Kremls erschließt. In Odessa setzen die Menschen ihre Hoffnung deshalb darauf, dass das bis auf weiteres so bleibt.