Zum Hauptinhalt springen

Der Westen gerät ins Hintertreffen

Von WZ-Korrespondent Peter Nonnenmacher

Politik

Russland und China erstarken militärisch. Westeuropa verliert seine technologische Überlegenheit, warnt das IISS-Jahrbuch.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 8 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

London. Eine folgenschwere Verschiebung der militärischen Gewichte von West nach Ost will das Londoner Forschungsinstitut IISS ausgemacht haben. "Die technologische Überlegenheit der Westmächte, von der man die vergangenen zwei Jahrzehnte ausgegangen ist, nimmt zusehends ab", meinen die Experten des Internationalen Instituts für Strategische Studien in ihrem neuen Jahrbuch "Military Balance".

Auch Russland, China und einige andere Staaten hätten jetzt immer mehr Zugriff auf neue, hochtechnologische Waffensysteme, und solche Systeme würden schneller denn je weitergegeben, erklären die IISS-Experten. Vor allem "Russland und China sind zunehmend aktiv bei der Entwicklung und Verbreitung fortgeschrittener militärischer Kapazitäten", befindet Instituts-Direktor John Chipman. "Beide Staaten sind auch wesentlich selbstbewusster in ihren Aktionen und ganz auf militärische Modernisierung bedacht."

Das Nato-nahe IISS appelliert deshalb geradezu an den Westen, seinen bisherigen technologischen Vorsprung im Militärbereich beizubehalten. Leider, meint Direktor Chipman, habe besonders in Europa "das wachsende Bewusstsein dieser Gefahr noch nicht zu einem echten Umdenken an der Rüstungsfront und bei den Rüstungsausgaben" geführt. Während Bedrohungen aller Art überall zugenommen hätten, sei Europa noch immer im "langen Zyklus der Kürzungen der Militärausgaben seit 1989" gefangen.

Das IISS-Jahrbuch weist in diesem Zusammenhang darauf hin, dass nur 4 der 26 europäischen Nato-Mitglieder die vereinbarten zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts im Vorjahr eingehalten haben. Die restlichen 22 Staaten kämen im Schnitt gerade einmal auf 1,1 Prozent. Wollten diese 22 Länder ihrer Selbstverpflichtung gerecht werden, müssten sie zusammen fast 100 Milliarden Dollar extra aufbringen, kalkuliert das Institut.

Allein die Zahl der Kampf-Bataillone Deutschlands, Italiens, Frankreichs, Großbritanniens und der USA in Europa habe sich seit Anfang der 1990er Jahre von 649 auf 185 vermindert. Die Zahl der französischen Kampfflugzeuge sei in diesen 25 Jahren von 579 auf 271 und die der britischen von 475 auf 194 gesunken. Im Raum Asien dagegen betrage das jährliche Rüstungs-Wachstum im Schnitt 5,6 Prozent. Der russische Anstieg in diesem Bereich bewege sich sogar in zweistelligen Zahlen, so der Bericht.

Man müsse sich fragen, meint der Herausgeber des IISS-Jahrbuchs, James Hackett, wie der Westen unter diesen Umständen "zum Beispiel ein revanchistisches Russland abschrecken" wolle. Nato-Beteuerungen, man würde den osteuropäischen Mitgliedern im Notfall durch rasche Eingreiftruppen beispringen, müssten neu überdacht werden angesichts veränderter Möglichkeiten der russischen Streitkräfte. Zum Baltikum etwa, glaubt Hackett, könne Russland dem Westen ohne weiteres den Zugang verwehren und so den Aktionsradius der Nato entscheidend eingrenzen, nicht zuletzt mit seinen S-400-Langstrecken-Luftabwehrsystemen und dem MiG-31BM-Foxhound-Kampfflugzeug.

Energiegestützte Waffenals Antwort

Sowohl im technologischen wie im materiellen Bereich sieht das IISS den Osten stark aufholen - obwohl der Militäretat der USA mit rund 600 Milliarden Dollar noch immer fast so groß ist wie der der nächstgrößten 14 Staaten zusammengenommen. Die lange Evidenzliste des Strategie-Instituts für die wachsende Stärke Russlands und Chinas reicht von den russischen Kh-101-Cruise Missiles, die "mit möglicherweise 4000 Kilometer Reichweite" aus der Tiefe Russlands Ziele in Europa erreichen könnten, bis zum Plan Chinas, eigene Flugzeugträger zu bauen.

"Hochentwickelte Waffensysteme sind nicht länger ein Vorrecht des Westens", erklärt IISS-Direktor Chipman. Auch im elektronischen Bereich seien Russland und diverse asiatische Staaten neuerdings eher auf Draht. Der Westen habe begonnen, darauf zu reagieren - mit Cyberspace-Entwicklungen, Datenanalyse, Roboter-Technologie und energiegestützten Waffen. Das Institut empfiehlt in diesem Zusammenhang mehr Partnerschaften zwischen den Regierungen und der privaten Rüstungsindustrie. Neue Waffensysteme hätten ihren Ursprung heute sehr viel häufiger im privaten Sektor als früher. Oft vermische sich auch die Produktion für zivile und militärische Zwecke: Das sei eine besondere Herausforderung für Regierungen überall.