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"Der Westen hat ja keine Ahnung"

Von Thomas Seifert

Politik

Die Welt, in der der Westen im Mittelpunkt steht, ist Geschichte. China rückt ins Zentrum, sagen John und Doris Naisbitt.


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"Wiener Zeitung:" Herr Naisbitt, Sie haben den Begriff Megatrend in den 1980er Jahren geprägt. Welche Megatrends sehen Sie heute?John Naisbitt: Die beste Methode, um in die Zukunft zu blicken, ist, die Gegenwart zu verstehen. Der heutige Megatrend: Die Welt, in der der Westen im Mittelpunkt steht, ist Geschichte. Wir haben es mehr und mehr mit einer polyzentrischen Welt zu tun. Der Westen hat ja nicht die geringste Ahnung, mit welcher Rasanz sich dieser Wandel vollzieht: Was weiß man in Europa und den USA schon über die neuen Allianzen zwischen Asien, Afrika und Südamerika? Diese Entwicklungen sind nicht neu, aber der Westen ist so sehr mit seinen eigenen Problemen beschäftigt, dass der Wahrnehmungshorizont sich immer stärker einengt.

Bisher hat der Westen die Regeln vorgegeben: 1944 wurde bei der Bretton-Woods-Konferenz das moderne Welt-Wirtschaftssystem aus der Taufe gehoben, Weltbank,
Internationaler Währungsfonds, GATT/WTO. Im Frühjahr 1945 wurden auf der Konferenz von San Francisco die Vereinten Nationen geboren - eine Institution, die bis heute den Siegermächten des Zweiten Weltkriegs eine herausragende Rolle zuweist. Ist es damit nun vorbei?John Naisbitt: Diese Institutionen und Strukturen wurden vom Westen zum Nutzen des Westens geschaffen. Doch IWF, Weltbank, WTO aber auch die UNO werden sich anpassen und modernisieren müssen.



Seit 2008 erleben wir eine Krise des westlichen Finanzkapitalismus. Zudem steckt die westliche Parteiendemokratie in der Krise, das globale Steuerungssystem ebenso. Was läuft schief?Doris Naisbitt: In unserem neuen Buch schreiben wir sinngemäß: Der Westen verhungert vor der prallvollen Schüssel. Es gibt eigentlich keinen Grund dafür, dass der Westen Krisengejammer anstimmt. Die USA und Europa haben alles, was sie brauchen, sie haben die nötigen finanziellen Mittel, ein tolles höheres Bildungssystem, ein exzellentes etabliertes Regierungssystem. Aber es gibt durchaus Dinge, die andere besser hinkriegen. Etwas weniger Hochmut in Europa und den USA wäre nicht unangebracht. Die chinesische Mentalität ist da anders: Die Chinesen versuchen stets, aus den Fehlern und den Erfolgen der anderen zu lernen.

Sind wir im Westen schlicht müde und ausgelaugt?John Naisbitt: In den USA und Europa weigern wir uns, den Realitäten ins Auge zu sehen. Der Westen ist ganz besessen von der Idee, dass es nur einen einzigen, richtigen und wahren Weg in Richtung Demokratie gibt. Nämlich unseren. Aber eine gute Regierung ist eine, die das Vertrauen der Bürger genießt, und eine gute Regierung vertraut ihrerseits den Bürgern. Es gibt so viele verschiedene Wege zur Demokratie. Aber wir meinen, dass man überall in Afrika und Lateinamerika unseren Weg kopieren muss. Die Chinesen werden in Afrika als viel weniger besserwisserisch wahrgenommen. In Peking sagt man: "Wie ihr auf dem afrikanischen Kontinent regiert, das geht uns nichts an. Wir wollen mit Euch über Wirtschaftsallianzen reden, die China und Afrika nützen. Nicht mehr und nicht weniger. Und übrigens, wir mischen uns im Gegensatz zu denen im Westen nicht in eure Angelegenheiten." US-Präsident Barack Obama hat letzten Sommer den ersten groß angekündigten USA-Afrika-Gipfel organisiert. Zwei Monate davor fand in China die zwölfte Afrika-Konferenz statt. Die zwölfte! Das sagt doch alles.

Doris Naisbitt: Nur damit wir nicht missverstanden werden: Freiheit, Redefreiheit, Meinungsfreiheit - das sind unglaublich wichtige Werte. Darauf dürfen wir im Westen zu Recht stolz sein. Aber die Regierungen müssen auch bei uns umdenken und hart daran arbeiten, das Vertrauen der Bürger wiederzugewinnen.

John Naisbitt: Wir erleben im Westen eine echte Führungskrise. Die Regierenden müssen die neuen Kommunikationstechnologien nutzen und beachten, dass die Hierarchien viel flacher wurden.

Asien erscheint diesbezüglich als Vorbild ungeeignet. Es gibt in vielen Ländern kaum Meinungsfreiheit, in weiten Teilen Asiens greift der Staatssicherheitsapparat tief ins Leben der Menschen ein.Doris Naisbitt: Am Tiananmen-Platz kann man sicherlich nicht mit einem Protest-Transparent aufmarschieren, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen.

John Naisbitt: Aber: China ist zugleich ein großes Versuchslabor, in dem regional ausprobiert wird, was funktioniert und was nicht. Die Regierung macht ständig Experimente. Das Land steht nicht still. Auch nicht, was die Mitgestaltungsmöglichkeiten der Bürger betrifft.

Doris Naisbitt: Wie das Land gemanagt wird, das ist die eine Sache. Und was die Freiheit im Land betrifft, eine andere.

John Naisbitt: 86 Prozent der chinesischen Bürger sind nach einer Pew-Umfrage mit der Arbeit ihrer Regierung zufrieden. Ich bin seit 1967 immer wieder nach China gereist, ich habe die Armut damals mit eigenen Augen gesehen. Mein Gott, was sind die Dinge seither besser geworden! Noch nie haben so viele Chinesinnen und Chinesen der Mittelschicht angehört. Noch nie haben so viele junge Chinesen im Ausland studiert. Jeder, der in der Ära von Mao Zedong aufgewachsen ist, weiß, um wie viel besser das heutige China dasteht.

Doris Naisbitt: Aber es gibt auch Defizite. Was vielen Menschen fehlt, ist so etwas wie ein Sinn des Lebens. Sie stellen sich die Frage: Wie verdiene ich möglichst viel Geld? Wie komme ich an die beste Universität? Wie kann ich meine Kinder auf die beste Schule schicken? Wie habe ich Erfolg? Doch immer mehr Chinesinnen und Chinesen verstehen gleichzeitig, dass Geld nicht alles ist. Dass Erfolg nicht alles ist. Sie verspüren eine Leere. Die Menschen werden nicht mehr durch eine gemeinsame Ideologie geeint, wie in früheren Jahren. Auch nicht durch eine gemeinsame Religion. Der chinesische Traum, das kann nicht nur Geld und Erfolg sein. Da gehört wohl auch Glück und Zufriedenheit dazu.

Der chinesische Traum . . .John Naisbitt: . . . handelt aber für die Regierung vor allem von der Renaissance chinesischer Macht. Die Chinesen sind davon überzeugt, dass jetzt ihre Zeit gekommen ist. Der chinesische Traum hat mit ihrem Status zu tun, damit, wie sie sich selbst und ihren Platz in der Welt sehen. Sie wollen wieder dorthin zurück, wo sie über Jahrhunderte standen. China will wieder das Reich der Mitte sein.

Doris Naisbitt: Nach den jüngsten Zahlen des Internationalen Währungsfonds sind sie bezogen auf Kaufkraftparität wieder auf dem ersten Platz. Aber was ihren kulturellen Einfluss betrifft und was ihre Akzeptanz betrifft, sind sie bei weitem noch nicht dort.

China hat in seiner bisherigen Entwicklung vor allem die Erfolge anderer kopiert. Doch was machen Chinas Unternehmen, wenn es nichts mehr zu kopieren gibt, wenn sie - um weiterzukommen - selbst hochgradig innovativ sein müssen?Doris Naisbitt: Das werden sie schaffen. Um noch bestehende Mankos zu überbrücken, schicken sie ihre Studenten in die Welt hinaus, nach Europa, in die USA, nach Singapur und Australien. Früher sind sie im Ausland geblieben, heute kommen sie zurück nach China.

John Naisbitt: Heute passiert bereits viel Innovation in China, woran es noch fehlt, sind genuin eigene Erfindungen, völlig neue, wirklich fundamentale technologische Durchbrüche.

Ist das nicht auch ein gesellschaftliches Problem asiatischer Gesellschaften, in denen Individualisten und eigenbrötlerische Genies einfach verkannt werden?John Naisbitt: In China ist es nicht so wie in Japan, wo der sprichwörtlich herausstehende Nagel stets hineingehämmert wird.

Doris Naisbitt: Aber die chinesische Gesellschaft ist natürlich eine kollektive Gesellschaft. Was noch schwerer wiegt. Jeder hat große Angst, Fehler zu machen. Und wenn man keine Fehler machen darf, dann riskiert man nichts.

John Naisbitt: Das chinesische Bildungssystem legt viel zu viel Wert auf Auswendiglernen. Antworten sind entweder richtig oder falsch. Aber die Reproduktion von Gelerntem sollte man nicht mit "Lernen" verwechseln. Bildung ist nicht, einen Eimer anzufüllen. Bildung ist, ein Feuer zu entfachen.

Zu den Personen

John Naisbitt

ersann in den 1980er Jahren
das "Megatrend"-Konzept. Der gebürtige Amerikaner machte auch den Begriff "Globalisierung" bekannt. Heute lebt und arbeitet John Naisbitt mit seiner aus Österreich stammenden Ehefrau

Doris Naisbitt

in Wien und Tianjin, wo die beiden das Tianjin China Institute betreiben. Ihr neues Buch erschien vor wenigen Wochen bei einem chinesischen Verlag.