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"Der Westen will uns gar nicht"

Von Martyna Czarnowska

Europaarchiv

Bulgarien steht vor einem Regierungswechsel. Der einst gefeierte, aus dem Exil zurückgekehrte ehemalige König und jetzige Ministerpräsident Simeon Sakskoburggotski liegt mit seiner Partei Nationale Bewegung in Umfragen weit hinter den Sozialisten. Viele Bulgarinnen und Bulgaren sehen ihre Hoffnungen auf ein besseres Leben enttäuscht. Und auch von Euphorie wegen des nahenden EU-Beitritts des Landes ist kaum etwas zu spüren. Die durch die Verfassungskrise neu entfachte Debatte um die nächste Erweiterung trägt dazu bei.


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Die 800 Tage sind vorbei. So lange werde es dauern, bis es den Bulgarinnen und Bulgaren besser gehen würde, hatte Premier Simeon Sakskoburggotski bei seinem Amtsantritt 2001 versprochen. Vassil hat dafür mittlerweile nur noch ein Achselzucken über. Klar leben jetzt einige Leuten besser, räumt der 58-jährige Ingenieur ein. Da wären etwa die Neureichen oder die Mafiosi, die statt wie früher Autos zu stehlen ins Versicherungsgeschäft eingestiegen seien. Doch eine weitaus größere Gruppe von Menschen hat der Zusammenbruch des kommunistischen Systems vor 15 Jahren an den Rand der Armut gedrängt. Der Übergang zur Marktwirtschaft hat seinen Preis.

Der Lebensstandard der meisten Menschen wächst bei weitem nicht so schnell wie die bulgarische Wirtschaft mit ihrem Plus von 5,5 Prozent. Die Arbeitslosigkeit liegt bei 12 Prozent. Das Minimumgehalt beträgt lediglich 150 Leva (75 Euro), Pensionisten erhalten kaum mehr, das Durchschnittseinkommen ist vielleicht drei Mal so hoch. Da wundert es Vassil nicht, wenn ein Arzt sich für eine finanzielle Zuwendung dankbar zeigt oder ein Polizist für ein Paar Geldscheine einen Strafzettel für Geschwindigkeitsüberschreitung nicht ausstellt. Auch die haben schließlich eine Familie zu ernähren.

Vassil selbst geht es gar nicht so schlecht. Seine Frühpension bringt ihm zwar gerade mal 83 Leva. Doch er hat eine Erbschaft gemacht und verdient als Selbstständiger weiter dazu. Die geräumige Wohnung in Sofia, wo er mit seiner Frau lebt, gehört ihm. Dennoch erzählt er lieber von den Menschen in dem Dorf, wo er sich ein Ferienhaus gebaut hat. Von dem Mann, der jeden Tag Pilze suchen geht, um sich am Abend ein Brot kaufen zu können. Von den paar Bewohnern, die sich gemeinsam um zwei, drei Kühe und Schafe kümmern, die ihnen Käse für den ganzen Winter liefern müssen.

Die Perspektive auf baldige Mitgliedschaft in der Europäischen Union, der Bulgarien 2007 beitreten soll, ist Vassil und seiner Familie kein Trost. Die Ängste sind ähnlich wie in den meisten beitretenden Staaten: Die Preise werden höher, der Lebensstandard werde sinken, die EU werde ihre Bedingungen diktieren und Konkurrenz schaffen, der das Land nicht gewachsen sei. "Wir müssen ihre Anforderungen erfüllen und werden trotzdem als Mitglieder zweiter Klasse behandelt", meint Vassil. Als Beispiel bringt er die Übergangsfristen für Arbeitnehmer. "Warum darf ich denn nicht in der EU arbeiten so wie andere? Ausländer dürfen sehr wohl hierher kommen und Land kaufen."

Der Westen will Bulgarien doch gar nicht, wirft Irina, Vassils Frau, ein. Es sei wie mit den Roma, erläutert sie. Sie sollen integriert werden, will die EU. Doch wie, wisse niemand. Warum, sei allerdings klar. Dieses Problem soll Bulgarien bei sich lösen, damit es nicht zu einem Problem anderer Länder wird. "Genauso ist es bei den Bulgaren selbst", konstatiert Irina. "Sie sollen in die EU integriert werden, aber bitte zu Hause bleiben. Wir sollen in unserem eigenen Saft schmoren."

Vassils Sohn, der 32-jährige Borislav will gar nicht weg. Dabei gefällt ihm Berlin, wo er fünf Jahre lang studiert hat, gut. Doch dort bleiben wollte er nicht - anders als viele seiner Kollegen. "Sie hätten alles gemacht, um nicht zurück zu müssen", erzählt er. Eine Heirat mit einer Deutschen habe damals 10.000 Dollar gekostet.

Borislav kam nach Sofia zurück, heiratete, hat zwei kleine Kinder. Er hat sich als Ingenieur selbstständig gemacht. Im Ausland möchte er nicht arbeiten. "Was soll ich dort machen, Treppen wischen?" fragt er. "Die Leute gehen weg, erwarten sich etwas davon und machen dann Jobs, die sie hier nie übernehmen würden", erklärt er. "Dabei lässt sich auch hier etwas erreichen."

Motor für die Wirtschaft

Das wissen nicht zuletzt ausländische Unternehmen zu schätzen. Die Perspektive eines EU-Beitritts des Landes hat das Vertrauen in den bulgarischen Markt gehoben und war ein Motor für die gesamte Wirtschaft. Mehr als 55 Prozent des Außenhandels wickelt Bulgarien jetzt schon mit EU-Staaten, hauptsächlich der Eurozone, ab. Allein die österreichischen Direktinvestitionen erreichten dort bis Ende 2004 ein Gesamtvolumen von 1,3 Mrd. Euro. Der Budgetüberschuss betrug im Vorjahr 1,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Bauwirtschaft und Fremdenverkehr boomen. Die Einnahmen aus dem Tourismus stiegen im Vorjahr auf etwa 1,6 Mrd. Euro und lagen um 20 Prozent höher als ein Jahr zuvor.

Für Andrej und Natalja ist all dies jedoch kaum von Nutzen. Mit ihren zwei Kindern leben sie in einer Drei-Zimmer-Wohnung in Plovdiv, knapp 200 km östlich von Sofia. Tochter Katja ist 28 Jahre alt, hat Wirtschaft studiert und arbeitet nun als Buchhalterin. Für bulgarische Verhältnisse verdient sie nicht schlecht. Doch sie ist die einzige in der Familie, die ein festes Gehalt bekommt. Ihr Bruder studiert, die Eltern sind arbeitslos, seit Jahren. Natalja war bei IBM angestellt, aber noch zu einer Zeit, als Lochkarten verwendet wurden. Die Firma wurde geschlossen. Andrej hat 15 Jahre in einem Unternehmen gearbeitet, das Schreibmaschinen produziert hat. Doch wer braucht noch Schreibmaschinen? Das Werk wurde geschlossen, Andrej entlassen - gemeinsam mit 3.000 Menschen. Mit seinen 55 Jahren könnte er vielleicht noch als Nachtportier arbeiten, für hundert Euro im Monat.

Jobs finden Andrej und Natalja dafür im Ausland. Regelmäßig fahren sie für ein, zwei Monate nach Österreich - zur Weinlese, zur Arbeit auf dem Bau oder Krankenpflege. Ihre Arbeitgeber wissen ihre Zuverlässigkeit zu schätzen - und die niedrigeren Lohnansprüche.

Sorge vor Preiserhöhungen

Doch so sehr sie auf die Möglichkeit des Reisens angewiesen sind: Einem EU-Beitritt Bulgariens sehen Natalja und Andrej skeptisch entgegen. Wieder Sorgen vor Preiserhöhungen und Konkurrenz. Katja fügt einen weiteren Aspekt hinzu. "Internationale Unternehmen kommen nicht umsonst hierher", weiß sie. Sie können gut verdienen daran, dass die Menschen hier über fast jeden Job froh sind. "Doch die Firmen zahlen kaum mehr als das landesübliche Gehalt. Alles andere würde sich ja nicht rentieren. Und wie soll sich da unser Lebensstandard heben?" überlegt Katja. Das Land würde arm bleiben, und große Unternehmen hätten gar kein Interesse daran, dass sich dies ändert. Den Einwand, dass Jobs geschaffen werden, lässt sie zwar gelten. "Doch in erster Linie profitieren die Firmen", betont sie.

Erweiterungsstopp gefordert

Bedenken gegen einen EU-Beitritt Bulgariens im Jahr 2007 werden aber auch in der Europäischen Union immer lauter. Ist die Debatte lange Zeit im Schatten des Streits um eine - weit entfernte - Mitgliedschaft der Türkei verlaufen, rücken die Beitrittswerber Bulgarien und Rumänien nun wieder verstärkt ins Rampenlicht. Angesichts der Verfassungskrise in der EU fordern nicht nur konservative Europaparlamentarier sondern auch Regierungspolitiker einen Erweiterungsstopp. Eine "Gelbe Karte", wie es Erweiterungskommissar Olli Rehn formulierte, haben Bulgarien und Rumänien bereits bekommen: In Mahnbriefen wurden die Länder aufgefordert, die Reformen im Justiz-, Landwirtschafts- und Umweltbereich durchzusetzen. Tun sie das nicht, kann der Beitritt um ein Jahr verschoben werden.

Bei all dem bleibe allerdings unerwähnt, wie viel Bulgarien bereits erreicht hat, findet Lilia. Und was die Beitrittsperspektive bewirkt habe. "Es ist die einzige Möglichkeit, sich von unserer sozialistischen Mentalität loszusagen", ist die in Sofia lebende Fernsehjournalistin überzeugt. "Ich weiß nicht, ob wir uns von uns aus ändern würden. Wir sollten kritisch uns gegenüber sein: Wir wollten bis jetzt immer den Staat betrügen, der wir doch selber sind. Ich denke, dass die EU uns bei unserem Mentalitätswandel hilft."

Die Vorbereitungen auf eine Mitgliedschaft seien sichtbar - und für den einzelnen spürbar. So sei es nicht mehr möglich, an der türkisch-bulgarischen Grenze 20 Flaschen Whisky auszuführen, führt Lilia als Beispiel an. Die Grenzen werden dicht gemacht, Bulgarien stellt sich darauf ein, zur Außengrenze der Europäischen Union zu werden.

Korruption "individueller"

Auch bei der Kriminalitätsbekämpfung sieht Lilia Erfolge. So war die Korruption früher organisiert, bis in höchste Regierungskreise. Nun sei sie "individueller". Und wenn sich Mafiosi auf offener Straße erschießen, wie das in den vergangenen Jahren - und zuletzt vor wenigen Tagen - ein paar Mal der Fall war, so seien das Revierkämpfe: Dies zeige ebenfalls, dass sie weniger Platz zum Agieren haben als früher.

Die Leute erwarten sich viel von der EU, wissen aber wenig darüber, berichtet Lilia. Dass die Ignoranz auf der anderen Seite ebenso groß ist, ist ihr klar. Doch dürfe sich die Europäische Union vor einer Aufnahme Bulgariens nicht scheuen. "Westeuropa schuldet uns das", stellt die Journalistin klar: "Wir waren fünfzig Jahre lang gefangen, nicht zuletzt wegen der Politik Großbritanniens und der USA. Der Marschall-Plan hat nicht für uns gegolten." So sei es nur recht, Bulgarien nun wieder aufzunehmen. "Das ist unsere Identität", sagt Lilia: "Eine europäische Identität."