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Anzahl der Laute zur Bedeutungsunterscheidung ist den Weltregionen sehr unterschiedlich. | Vielfalt an Phonemen in Sprachen nimmt mit der Entfernung von Afrika ab.
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Marne/Holstein. Vor 50 Jahren erregte der deutsche Übersetzer Richard Fester mit abenteuerlichen Schlussfolgerungen einiges Aufsehen. Gestützt auf die Hypothese, dass sämtliche Sprachen der Welt einen gemeinsamen Ursprung hätten, verglich er fünf Millionen Wörter aus mehr als 100 Sprachen miteinander, um die Urwörter der Menschheit zu erschließen. Schließlich glaubte er, die sechs ältesten überhaupt rekonstruiert zu haben: "ba", "kall", "tal", "tag", "os" - und "acq", das "Wasser" bedeuten soll.
Die professionelle Linguistik erkennt Festers spekulative Ableitungen nach wie vor nicht an. Doch seine Annahme einer einmaligen Entstehung der menschlichen Sprache hat einiges für sich. Hierfür sprechen auch die Erkenntnisse des neuseeländischen Kulturanthropologen und Evolutionspsychologen Quentin Atkinson (Universität Auckland).
Dass der Homo sapiens in Afrika entstanden sein muss, darauf lässt schon ein einziger Umstand schließen: Die genetische Vielfalt nimmt im selben Maße ab, in dem man sich von Afrika entfernt. Populationsgenetiker nennen das den "Gründereffekt": Wenn sich eine Gruppe von einer Gründerpopulation löst und abwandert, nehmen ihre Mitglieder nur den Teil der Genvielfalt mit, den sie zufällig in sich tragen.
Diese Schrumpfung der genetischen Vielfalt setzt sich fort. wenn sich noch weitere Gruppen abspalten. Könnte es nicht sein, fragte sich Atkinson, dass das, was mit den menschlichen Genen passiert ist, auch mit den Phonemen der menschlichen Sprachen geschah? "Da die Sprachen kleiner Populationen in der Regel auch mit wenigen Phonemen auskommen, wollte ich überprüfen, ob es so etwas wie einen linguistischen Gründereffekt gibt", erklärt Atkinson. "Und wenn ja, wo wir den Ursprung der Sprache zu suchen hätten."
Unter Phonemen versteht man die kleinsten Lauteinheiten - Vokale, Konsonanten oder auch Tonhöhen - einer Sprache, die dazu verwendet werden, Bedeutungen zu unterscheiden. So gehören im Deutschen die Laute /g/ und /k/ eindeutig zu den Phonemen, denn durch sie wird beispielsweise angezeigt, dass die Wörter "Kunst" und "Gunst" zwei fundamental verschiedene Phänomene bezeichnen.
Erstaunlicherweise kann die Anzahl der Laute, die zur Bedeutungsunterscheidung benutzt werden, von Sprache zu Sprache extrem variieren. So begnügt sich das Pirahã - eine Sprache, die im Amazonas-Gebiet gesprochen wird - mit gerade einmal elf Phonemen. Hingegen verfügt das Kung-Ekoka, das von Buschmännern in Namibia gesprochen wird, über die gigantische Menge von 141 verschiedenen Phonemen.
Verblüffende Erkenntnis
Um der Sache auf den Grund zu kommen, hat sich Atkinson den "World Atlas of Language Structures" (WALS) zunutze gemacht, den das Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig erarbeitet hat. In dieser Datenbank sind die Phoneminventare von 2650 Sprachen aus allen Kontinenten erfasst. Von diesen Sprachen wählte Atkinson 504 aus, die heute gesprochen werden, und ermittelte jeweils die Zahl ihrer bedeutungsunterscheidenden Vokale, Konsonanten und Tonhöhen. Danach versuchte er, zwischen dem Phonemumfang der Sprachen und ihrer geografischen Verteilung über den Erdball eine Beziehung herzustellen.
Das Resultat ist verblüffend. Demnach sind die Sprachen mit der höchsten Vielfalt an Phonemen in Südwestafrika und dann im übrigen Afrika zu finden. Es folgen die Sprachen, die in Südostasien und in Europa gesprochen werden. Hingegen sind diejenigen am ärmsten an bedeutungsunterscheidenden Lauten, die man in Süd- und Nordamerika sowie Ozeanien spricht - also in den Regionen, die am weitesten von Südwestafrika entfernt sind. Atkinson schließt aus seinen Befunden, dass der Homo sapiens im Südwesten Afrikas die erste Sprache überhaupt gesprochen hat und dass aus ihr sämtliche anderen Sprachen hervorgingen. "Ich war ein wenig überrascht, dass es tatsächlich regionale Unterschiede gibt," sagt Atkinson. "Besonders aber, dass die regionalen Unterschiede tatsächlich eine vorhersehbare Abnahme der Phonemvielfalt zeigen und dass sich daraus eine Herkunft der Sprache aus Afrika herleiten lässt, genau wie bei den Genen."
Theorie hat Mängel
Atkinsons Theorie weist einige Mängel auf, die der Hamburger Linguist Anatol Stefanowitsch aufgedeckt hat. So ist zwar nicht zu bestreiten, dass Sprachen tendenziell desto mehr Vokale einbüßen, je mehr die Regionen, wo sie gesprochen werden, von Afrika entfernt sind. Ein Konsonantenverlust vergleichbaren Ausmaßes ist aber nicht festzustellen. Und Tonhöhen sind nur bedingt aussagekräftig, da die tonalen Sprachen, in denen sie als Phoneme dienen, sich offenbar erst verhältnismäßig spät herausgebildet haben. Atkinson tut sich außerdem schwer damit zu erklären, warum die Phonemvielfalt abnimmt, sobald sich Sprachgemeinschaften in verschiedene Gruppen aufspalten.
Atkinson könnte dennoch recht haben, folgt man dem britischen Soziolinguisten Peter Trudgill. Trudgill nimmt an, dass Mitglieder kleiner Sprachgemeinschaften davon profitieren könnten, durch ein dichtes Netz von Beziehungen miteinander verflochten zu sein, einander gut zu kennen und sich mit etlichen Dingen gleich gut auszukennen. In einer solchen Situation sei die Gefahr von Missverständnissen ziemlich gering, und deswegen würden nur verhältnismäßig wenige bedeutungsunterscheidende Laute benötigt. Ob diese Theorie stimmt, ist freilich auch noch nicht geklärt.