Zum Hauptinhalt springen

Der wilde Flug der Covid-Tröpfchen

Von Eva Stanzl

Wissen

Infektiöse Tröpfchen fliegen unterschiedlich weit, je nachdem, wie tief geatmet wird und wie groß sie sind. Das berichten Mathematiker anhand von Modellen des Weges, den die Partikel zum Boden nehmen.


Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 4 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.

Es ist keine Perspektive, die Freude bereitet. Wissenschafter und Weltgesundheitsorganisation warnen, dass virenhaltige Aerosole bei der Ansteckung mit dem Coronavirus Sars-CoV-2 eine Rolle spielen. Wenn sie bei der Verbreitung der Lungenkrankheit Covid-19 entscheidend ist, könnten Abstandsregeln überdacht, Klimaanlagen neu ausgerüstet und Gruppentreffen wohl verboten werden müssen - ein Leben entweder in konsequenter Isolation oder in einem Rüstzeug aus Schutzkleidung wäre die Folge.

Ein Aerosol ist ein Gemisch aus festen oder flüssigen Schwebeteilchen in einem Gas und ein dynamisches System, das ständigen Veränderungen unterliegt. Die kleinsten dieser Partikel sind nur wenige Nanometer groß. Sie können kondensieren, verdampfen oder sich zusammenschließen - und sie werden auch mit dem Atem in die Luft ausgeschieden.

Konsens herrscht darüber, dass die Gefahr einer Ansteckung durch virenhaltige Aerosole in geschlossenen Räumen größer ist als im Freien - Dissens aber darüber, wo hoch die Virenlast in einem Raum sein muss, um krank zu werden. Als erwiesen gilt, dass die größeren Tröpfchen nach einem bis eineinhalb Metern zu Boden fallen und dann keine Ansteckung der Atemwege mehr verursachen.

Ein schottisches Forschungsteam der Heriot-Watt University und der Universität Edinburgh ist der Ansicht, dass ein besseres Verständnis der Bewegungen dieser Tröpfchen in der Luft ausschlaggebend für den Umgang mit Sars-CoV-2 ist. Zudem hebt es hervor, dass das Verhalten dieser Ausscheidungen von ihrer Größe und der Tiefe der Atemzüge abhängt.

Im US-Fachjournal "Physics of Fluids" präsentiert die Gruppe ein mathematisches Modell für kleine, mittlere und große Tröpfchen und deren Reichweite bei unterschiedlich tiefen Atemzügen. Mit Hilfe des Modells will sie richtig einschätzen können, wie sich luftübertragene Infektionskrankheiten wie Covid-19 verbreiten.

Die komplexe Physik des Hustens

Mit jedem Ausatmen geben wir Tröpfchen von unterschiedlichen Größen in unsere Umgebung ab. Doch selbst die kleinsten im Durchmesser von zehn Mikrometer legen bis zu zwei Meter in der Luft zurück, wenn sie nur tief genug ausgeatmet werden. Große Tröpfchen, die mit ruhigem Atem ausgestoßen werden, fliegen hingegen nur 80 bis 100 Zentimeter weit, bevor sie zu Boden fallen. Theoretisch könnte das sogar heißen, dass Infizierte andere schützen könnten, indem sie vorübergehend etwas ruhiger atmen. Die Berechnungen bestätigen indirekt, warum Fälle mit zahlreichen Infizierten in Chören nachgewiesen wurden. Kürzlich hatte der frühere Präsident der Internationalen Gesellschaft für Aerosole in der Medizin, Gerhard Scheuch, erklärt, dass ein infizierter Sänger beim Singen besonders viele Aerosole erzeugt: Weil er sehr tief einatmet, werde die Produktion in der Lunge erhöht. Er wies außerdem darauf hin, das gerade sehr kleine Teilchen von unter fünf Mikrometern stundenlang in der Luft schweben - und eingeatmet werden könnten. Scheuch zählt sich zu jenen Wissenschaftern, die die Ansteckung über Aerosole sogar für den wichtigsten Infektionsweg halten.

"Die Physik des Hustens ist komplex. Wer hustet, stößt alles Mögliche aus - von turbulenten Jets bis zu verdampfenden Tröpfchen", wird Studienleiter Cathal Cummins in einer Ausendung der Heriot-Watt University in Edinburgh zitiert. "Die rapide Verbreitung von Covid-19 zeigt, dass es Lücken im Verständnis der Physik des Übertragungsweges von Infektionskrankheiten der Atemwege gibt. Mit unserem Rahmenwerk lässt sich die Verbreitung von Tröpfchen in der Luft verstehen und besser einschätzen."

In dem Modell ist der Atem die Punktquelle der ausgeatmeten Luft und der Tröpfen, die zuerst fliegen und dann absinken. Um ihre Größe und Dichte in die Rechnung zu bringen, bediente sich das Team der Maxey-Riley-Gleichung für die Bewegung einer biegesteifen Kugel von begrenzter Größe in einer Flüssigkeit. Aus dem Modell schließt das Team, dass die bimodale Verteilung eine Eigenschaft der Tröpfchen selbst sein könnte. Diese Art der Verteilung im Raum ist mehrgipfelig - das heißt, sie weist mehr als einen Höhepunkt auf und kann symmetrisch oder asymmetrisch stattfinden. Mit diesen Formeln will die Gruppe vorhersagen, wann die Tröpfchen-Reichweite gering und somit weniger gefährlich ist.

Aerosol-Filter statt Schutzkleidung als Lösung

"Unsere Studie zeigt, dass zwischen der Tröpfchengröße und ihrer Verlagerung im Raum kein lineares Verhältnis besteht. Kleine und große Tröpfchen reisen zudem über größere Distanzen als mittelgroße", betont Ko-Autorin Felicity Mehendale von der Universität Edinburgh. Das Problem aus ihrer Sicht: Masken, Gesichtsvisiere und Schutzkleidung könnten zwar Infektionen mit größeren Tröpfchen verhindern, nicht aber solche mit Partikeln, die kleiner sind als der Durchmesser eines menschlichen Haares.

Als Lösung sieht die Chirurgin Geräte, die der Luft die Aerosol-Partikel entziehen. Das Team arbeite an der Entwicklung solcher Maschinen, in einem ersten Schritt zum Schutz des klinischen Personals und der Zahnärzte.

Demgegenüber hatte im Juli ein Team um Michael Klompas von der Harvard Medical School eine Analyse veröffentlicht, wonach die Virusübertragung mittels Aerosolen nicht der dominante Weg der Verbreitung sei. Zum Beleg führten die Forscher einen Vergleich an: Bei anderen Krankheiten wie etwa den Masern, die erwiesenermaßen über Aerosole verbreitet werden, stecke ein Infizierter viel mehr Personen als bei Sars-CoV-2 an. Die Reproduktionszahl des neuen Coronavirus sei kleiner und eher mit der von Grippeviren vergleichbar.