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Der Winter kommt

Von Joëlle Stolz

Gastkommentare

Der neue französische Präsident steht vor großen Herausforderungen.


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Wer stimmt wohl nicht für die Jugend, für den Enthusiasmus, den Optimismus? Wie eine klare Mehrheit der Franzosen (eigentlich ein Drittel der Wählerschaft, wenn man die 34 Prozent für Marine Le Pen, die 25 Prozent Nichtwähler und die 8,9 Prozent Weißwähler berücksichtigt) habe auch ich Emmanuel Macron in beiden Wahldurchgängen meine Stimme gegeben, um seine Gegnerin Le Pen zu verhindern.

Und doch habe ich ernsthafte Zweifel an der Fähigkeit des "französischen Barack Obama", zwar nicht in Bezug darauf, ein durch Ängste und obsolete Strukturen paralysiertes Frankreich wieder flott zu machen, aber ob er es schafft, die enormen Herausforderungen unserer Zivilisation aufzunehmen. Vorerst scheint er diese nicht einmal zu erkennen.

Das Projekt Macron, das eine Erneuerung der politischen Klasse und eine Reihe von wichtigen Vorhaben umfasst (Erziehung und Kultur, Arbeit, Modernisierung demokratischer Institutionen und Aussenpolitik), will vor allem mehr "Flexi-Sicherheit" einführen - eine gerechtere soziale Sicherheit, wohl auf niedrigerem Niveau, mit mehr Raum für Unternehmen. In Skandinavien und Deutschland hat dieses Prinzip in den vergangenen zwei Jahrzehnten eher gut funktioniert.

Macron ist bei uns nicht der Erste, der diesen Schritt wagt. Schon die Regierung unter Alain Juppé, der von Präsident Jacques Chirac im Mai 1995 zum Premier ernannt wurde, versuchte es, um die soziale Kluft, ein Hauptthema in Chiracs Wahlkampfes, zu verringern. Das Projekt, unser Pensionssystem einheitlicher zu machen und im sozialen Schutz prekäre Schichten einzubinden - freilich auch auf Kosten mancher Sonderregelung für Staatsbeamte - führten zu massivem Widerstand, trotz resoluter Unterstützung durch die linke Gewerkschaft CFDT.

Landesweite Streiks legten die öffentliche Verwaltung lahm, vor allem im Verkehrssektor (Bahn, Busse, U-Bahn, regionale Schnellzüge). Umfragen zeigten, dass die Mehrheit der Arbeiter des Privatsektors diesen Widerstand unterstützten, die geschützten Arbeitnehmer sind zu Vertretern aller Arbeiter geworden. Nach Wochen von Streiks, Demonstrationen und reger Debatte - die französischen Intellektuellen waren tief gespalten zwischen Unterstützung für diese Reform und Solidarität mit den Streikenden - musste Premier Juppé sein Projekt verwässern und trat schließlich zurück. Auch Nicole Notat, die Gewerkschaftsführerin der CFDT, musste gehen.

Dieser riesige Konflikt führte später zur 35-Stunden Woche, von der sich die Sozialisten versprachen, dass sie viel mehr Arbeitsplätze schaffen würde. Zwei Jahrzehnte danach ist die Bilanz bescheiden: Die Arbeitslosigkeit bleibt bei 10 Prozent und ist bei den Jüngeren mehr als doppelt so hoch.

Aber so offensichtlich die französische Krankheit sein mag, sollte man den Blick auf das gesamte Bild nicht verlieren. In den USA wurde jüngst trotz einer dynamischen Wirtschaft und viel niedrigerer Arbeitslosigkeit (derzeit mit 4,4 Prozent nahe der Vollbeschäftigung) Donald Trump gewählt.

Schlechte Jobs und soziale Härte

Das Problem ist weniger in der Anzahl, sondern in der Qualität der Arbeitsplätze zu finden. Solange die Leute das Gefühl haben, einer vernünftigen Arbeit nachzugehen und glauben, dass ihre Kinder es besser haben werden, sind sie bereit, eine gewisse soziale Härte zu akzeptieren. Aber wenn ihnen nur schlecht bezahlte mindere Jobs angeboten werden, während andere für die eigentliche Wertschöpfung verantwortlich sind und wesentlich mehr verdienen, lehnen sie sich auf, zuerst mit dem Wahlzettel, dann vielleicht mit radikaleren Gesten.

In den USA, einem riesigen und teilweise dünn besiedelten Land, in dem viele Schusswaffen vorhanden sind, könnte es zu sezessionistischen Rebellionen führen, die zwar die Nationalgarde beschäftigen, aber die neuralgischen Wirtschaftzentren nicht direkt bedrohen würden. In Europa, wo Waffen besser kontrolliert sind, aber das Territorium dicht besiedelt ist, wäre die Situation sofort kritischer, da die Unruhen von Anfang an in den urbanen Zentren zu spüren wären.

Digitalisierung und Bio-Engineering

In dieser Hinsicht lässt die Ansage von Jean-Luc Mélenchon, der im ersten Wahlgang fast 20 Prozent der Stimmen erhielt (bei den 18- bis 24-Jährigen sogar 30 Prozent), "Widerstand" gegen das große Kapital zu organisieren, für Macron schwierige Zeiten erwarten. Und da ist noch gar nicht die Rede von Le Pen, die mithilfe ihrer elf Millionen Wähler die Opposition anführen will.

Was ist denn das "Kapital des 21. Jahrhunderts" - so der Titel eines dicken Buchs des linken französischen Ökonomen Thomas Piketty, der zum Bestseller in den USA wurde? Seine Konturen sind noch schwierig zu erkennen, der technologische Wandel ist derart rapide, er trübt unseren Blick. Ziemlich sicher ist aber, dass es nicht mehr in den Kohle- und Kupferbergwerken zu finden ist, auch nicht in den Öl- oder Gasquellen, nicht einmal in den hochtechnologischen Fabriken in Deutschland, der Schweiz oder Österreich, die bis jetzt Maschinen für die modernen Industrien erfolgreich produzieren.

Der zukünftige Reichtum, wenn man dem wirtschaftsliberalen Blatt "The Economist" glauben darf, befindet sich in den riesigen Datenzentren. Diese wachsen derart schnell, dass man schon daran denkt, die digitalen Informationsträger aufzugeben, um die Milliarden von täglich im globalen Netz produzierten Informationen wie DNA zu kodifizieren. Und wer kontrolliert die Datenzentren? Fast ausschließlich US-Konzerne wie Google, Apple, Facebook oder Amazon, die zunehmend ihr Reich auf einen anderen, vielversprechenden Sektor ausweiten: das sogenannte Bio-Engineering.

Vor allem Automatisierung sorgt für globale Ungleichheit

Ein neuer Bericht des Internationalen Währungsfonds (ebensowenig eine ultralinke Brutstätte wie "The Economist") zeigt auf, dass die globale Ungleichheit seit 1990 zugenommen hat: Zu 50 Prozent ist das auf die Automatisierung der Produktionsprozesse zurückzuführen und nur zu 25 Prozent auf die Globalisierung - ein Argument gegen Trump und Le Pen, die fest glauben, sie könnten diese Ungleichheit korrigieren, indem sie Zollbarrieren errichten. Aber auch ein Stein in den Garten von Monsieur Macron, der die französische Krankheit mit einer Mischung aus keynesianischer Rezepten (um die Investitionen zu fördern) und Schumpeter-Glauben in die "creative destruction" behandeln will: Arbeitsplätze werden durch neue Technologien abgeschafft und gleichzeitig neue geschaffen.

Alles zeigt in eine andere Richtung: Wir betreten eine jahrzehntelange Turbulenzenzone, in der eine extrem schnelle Entwicklung im technologischen Bereich, massive Probleme in der Umwelt und große Migrationswellen (wenn man Jugendlichen der Dritten Welt Second-Hand-Smartphones billig verkauft, wie Apple es tut, stimuliert man ihren Drang, in den Norden zu ziehen) sich gegenseitig maximieren werden. Unter den Bevölkerungen des Nordens wird dies eine akute Krise der Unsicherheit provozieren. Es geht dabei nicht nur um kulturelle Unsicherheit - die Angst, eine Minderheit im eigenen Land zu werden, die schon die Rechtspopulisten verstärken -, sondern auch um eine viel tiefere anthropologische Angst, die gewaltsame Reaktionen hervorrufen könnte.

Es ist höchste Zeit, dass Europas Politiker, Macron eingeschlossen, diese Gefahren wahrnehmen. Denn auch wenn heute der Flieder blüht und die Kastanienbäume duften: "Winter is coming" ("Der Winter kommt"), um die Fernsehserie "Game of Thrones" zu zitieren.