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Der Wohlfahrtsstaat zeigt Sprünge

Von Heiner Boberski

Wissen
Bernd Marin sieht die Altersversorgung durch (oft erzwungenen) Müßiggang in Gefahr.
© die Berater (R)

Buchpräsentation mit lebhafter Debatte über die Säulen unseres Sozialsystems.


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Wien. Zwischen 1970 und 2011 ist in Österreich im Durchschnitt die Dauer einer Pension bei Frauen von 16 auf 28 Jahre, bei Männern von 11 auf 22 Jahre gestiegen. Wir leben immer länger, zugleich ist aber aus vielerlei Gründen (längere Ausbildung, Unterbrechungen im Berufsleben, vorzeitiger Ruhestand) die Zahl der beitragsgedeckten Jahre bis zum Pensionsantritt auf durchschnittlich 31 Jahre gesunken.

Nicht die Demographie, nicht das Älterwerden sei das Problem bei der Finanzierung der Pensionen, sondern die Schwäche der Erwerbstätigkeit, betonten Experten am Dienstag in der Österreichischen Akademie der Wissenschaften (ÖAW) in Wien. Die Präsentation des Buches "Welfare in an Idle Society?" (wörtlich: Wohlfahrt in einer untätigen Gesellschaft?) des österreichischen Sozialwissenschafters Bernd Marin, Executive Director des Europäischen Zentrums für Wohlfahrtspolitik und Sozialforschung, geriet zu einer spannenden Debatte über die Säulen des Sozialsystems und deren Finanzierung.

Das Buch wurde von der Hannes-Androsch-Stiftung bei der ÖAW gefördert. Laut ÖAW-Präsident Helmut Denk ist sie die bedeutendste Stiftung dieser Art seit 1945. Das 700-Seiten-Werk Marins sei ungemein vielschichtig und stelle die "Bilanz eines Forscherlebens" dar, urteilte mit einem "Chapeau!" der deutsche Pensionsexperte Bert Rürup. Rürup wünschte dem Buch, das herausragende Ansätze zu einem finanzierbaren und fairen Pensionssystem enthalte, viele Leser, vor allem in der österreichischen Politik. Diese werden das Werk freilich auf Englisch lesen müssen. Eine deutsche Ausgabe werde es nicht geben, sagte Marin.

In seinem Buch geht Marin zunächst ausführlich auf die Grundlagen der modernen Wohlfahrtsgesellschaft und des gegenwärtigen Pensionssystems ein. Mit unzähligen Zahlen, gut aufbereitet in übersichtlichen Tabellen und Grafiken aus ganz Europa veranschaulicht er die heutigen Herausforderungen. Dass es für Europa ein einheitliches Sozialmodell gibt, bestreitet er. Er sieht eine Weggabelung zwischen den "angloskandinavischen Arbeitsgesellschaften" im Nordwesten und dem anders gearteten Südosten.

Die Relativität des Alters

Marin sieht auch eine neue "Relativitätstheorie des Alters", bei der man das Alter danach bewertet, wie viele Jahre jemand voraussichtlich noch zu leben hat. In diesem Sinn ist in Österreich heute ein 73-Jähriger mit einem 65-Jährigen der 1980er Jahre zu vergleichen. Marin erwartet, dass in Österreich in zehn Jahren statt jetzt 40.000 schon 400.000 Menschen Pensionsbezug und Erwerb kombinieren und nicht nur den Ruhestand genießen werden. Gefahr für die Altersvorsorge bedeutet für ihn der oft erzwungene Müßiggang von 27 Millionen arbeitslosen und weiteren 100 Millionen inaktiven Europäern.

Zeitweiliges Ausscheiden aus dem Arbeitsprozess sollte möglich sein, sich aber in der Pensionsberechnung auswirken. Der Pensionsantritt sollte dafür später und möglichst bald für Männer und Frauen gleichzeitig erfolgen. In Österreich sei, grob gerechnet, jährlich ein Pensionsloch von 14 bis 15 Milliarden Euro aus dem allgemeinen Budget zu stopfen. Und dann, so Marin, fehlten vergleichsweise geringe Beträge für Kindergärten oder für die außeruniversitäre Forschung.

Auch Hannes Androsch beklagte, dass die Pensionszuschüsse wichtige Investitionen verhindern. Unter Hinweis auf von ihm bereits in den 1970er Jahren verfasste Texte beklagte er die heutige "Zukunftsvergessenheit" und den damit verbundenen Mangel an "Generationen-, Bildungs- und Leistungsgerechtigkeit".