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Erdogan hat Europa-Bashing als Wahlkampfschlager entdeckt. Sein Land steckt allerdings in einer tiefen Krise.
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Istanbul/Den Haag/Wien. Der derzeitige Konflikt zwischen der Türkei und einzelnen europäischen Staaten ist wohlkalkuliert: Der türkische Präsident Recep Tayyip Erdogan steckt mitten im Wahlkampf um ein Verfassungsreferendum, das am 16. April über die Bühne gehen soll. Nach dem Willen Erdogans soll die Türkei zu einer Präsidialrepublik umgebaut werden. Stimmt die Mehrheit diesem Vorschlag zu, dann nützt dies vor allem einem Mann: Erdogan selbst. Als Staatschef würde er auch die Regierungsgeschäfte übernehmen, das Amt des Premiers wäre abgeschafft. Erdogan könnte das Parlament auflösen, wann immer ihm danach ist, dürfte 12 von 15 Verfassungsrichtern selbst bestimmen, das bisherige Gebot, das den Präsidenten zu parteipolitischer Neutralität verpflichtet, wäre aufgehoben.
Erdogans Sieg ist aber alles andere als gesichert und so buhlt der starke Mann am Bosporus um Simmen bei den türkischen Communities in den Niederlanden (wo 400.000 Türken leben) , Deutschland (1,14 Millionen), Frankreich (800.000) und auch Österreich (350.000). Aber auch im eigenen Land soll der Konflikt mit Europa ihm nutzen: In Halbstarkenmanier setzt Erdogan bei der Mobilisierung für seine Sache auf die Kultivierung eines "Außenfeinds". Dass nach Artikel 94/A des türkischen Wahlgesetzes Wahlkampfauftritte im Ausland untersagt sind, kümmert die AKP-Politiker, die dieses Gesetz 2008 beschlossen haben, offenbar nicht.
Pappkamerad Deutschland
Deutschland wäre wohl der Lieblingspappkamerad für Erdogans Attacken gewesen: Spätestens seit der Korrespondent der Berliner Tageszeitung "Die Welt", Deniz Yücel in der Türkei im Gefängnis sitzt, sind die Beziehungen zwischen beiden Ländern am Gefrierpunkt. Yücel werden "Propaganda für eine terroristische Vereinigung" und Aufwiegelung der Bevölkerung" zur Last gelegt - Yücels Unterstützer weisen die Anschuldigungen als konstruiert und haltlos zurück.
Eine Reihe von Auftritten von türkischen Ministern in Deutschland wurden einfach niederadministriert: Einmal scheiterte es daran, dass plötzlich kein Saal für den Politikerauftritt mehr zur Verfügung stand, ein anderes Mal am fehlenden Brandschutz, ein drittes Mal an einer ausreichenden Anzahl an Parkplätzen. Erdogan war erzürnt: Bei einer Parteiveranstaltung am 5. März in Istanbul warf er Deutschland "Nazi-Methoden" vor.
Erdogan und die Nazikeule
Doch letztlich konnte Sportminister Akif Cagatay Kilic in Köln und Außenminister Mevlüt Cavusoglu in Hamburg sprechen. Und die Vertreter der deutschen Regierung blieben selbst angesichts der wüsten und hysterischen Erdogan-Rhetorik relativ gelassen - aus einem Aufreger wurde nichts, Ankara blieb nichts anderes übrig, als die Nazi-Keule wieder einzupacken.
Paris reagierte ähnlich wie Berlin: Eine Rede des türkischen Außenministers Cavusoglu in Metz im Osten Frankreichs wurde genehmigt. Kein Skandal also.
In Österreich wurden einige Auftritte von AKP-Politikern mit der Begründung, die öffentliche Sicherheit sei nicht gewährleistet, abgesagt. Das Innenministerium will das Demonstrationsrecht in der Form abändern, dass hinkünftig eine "beabsichtigte Teilnahme von Vertretern ausländischer Staaten" in die Demonstrationsanmeldung aufgenommen werden muss. Derartige Demonstrationen sollen in Zukunft unter bestimmten Umständen untersagt werden können.
Türkische und österreichische Spitzenpolitiker tauschen weiter Unfreundlichkeiten aus: Der türkische Vize-Ministerpräsident Nurettin Canikli hat Österreich (aber auch Deutschland und den Niederlanden) "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" wegen der angeblichen Unterstützung der kurdischen PKK vorgeworfen, und kritisiert, dass die EU zunehmend "repressiv und autoritär" werde. Die Meinungsfreiheit sei bedroht. Der österreichische Außenminister Sebastian Kurz bezeichnete die Vorwürfe als "jenseitig" und rief Ankara auf, die türkische Innenpolitik nicht "nach Österreich zu tragen". Dies schade der Integration der in Österreich lebenden Türken. Angesichts der völlig zerrütteten Beziehungen zwischen Ankara und Wien lässt sich der verbale Schlagabtausch zwischen Canikli und Kurz aber als "gar nicht so schlimm" bezeichnen.
Am Wochenende dann die Erlösung für Erdogan: Einreiseverbot in den Niederlanden für Außenminister Mevlüt Cavusoglu, die türkische Familienministerin Fatma Betül Sayan Kaya, die mit dem Auto in die Niederlande einreisen will, wird zurück nach Deutschland eskortiert. Dazu noch äußerst unschöne Szenen bei Protesten gegen das Auftrittsverbot für türkische Minister in Rotterdam. Besonders ein Foto, auf dem zu sehen ist, wie sich ein Polizei-Schäferhund ins Bein eines türkischen Demonstranten verbeißt und der Hundeführer das Tier einfach gewähren lässt, während der Demonstrant auf dem Boden liegt, lassen in den regierungsnahen türkischen Medien die Wogen hochgehen. Schon die Auftrittsverbote lieferten Erdogan Munition für seinen Wahlkampf, das Vorgehen der Polizei in Rotterdam ist für ihn wie ein Gottesgeschenk. Der Abgeordnete Hüseyin Kocabiyik von Erdogans AKP sagt dem regierungsnahen Sender "A Haber" ins Mikrofon: "Lasst uns nicht wütend auf diese Deutschen und Niederländer sein. Vielleicht müssen wir ihnen ein wenig danken. Sie haben etwa zwei Punkte zu unseren Ja-Stimmen beigetragen, da können Sie sicher sein."
Perfektes Ablenkungsmanöver
Das Ablenkungsmanöver ist perfekt: Der Konflikt mit Europa mobilisiert nicht nur fromme Erdogan-Jünger, sondern auch verbissene säkulare Nationalisten, deren Stimmen Erdogan beim Verfassungsreferendum dringend braucht. Erdogans desaströse Leistungsbilanz ist dabei völlig in den Hintergrund gerückt: Die Jugendarbeitslosigkeit ist mit rund 20 Prozent erschreckend hoch, die Teuerung ist mit um die zehn Prozent schlimm wie seit fünf Jahren nicht mehr, Investoren ziehen in Massen Kapital ab, die Tourismusindustrie liegt in Trümmern und die türkische Lira ist im freien Fall.
Neben dieser wirtschaftlichen Misere sollte Erdogan eigentlich auch das politische Chaos Sorge bereiten: Gleich zwei Kriege umtosen das Land: Der Bürgerkrieg mit der kurdischen PKK im Südosten des Landes ist wieder aufgeflammt, im Krieg in Syrien sind bereits 70 türkische Soldaten ums Leben gekommen. Immer wieder erschüttern blutige Anschläge des sogenannten Islamischen Staates das Land. Dazu kommt, dass sich die Türkei nach dem gescheiterten Militärputsch vom 15. Juli 2016 noch immer noch im Ausnahmezustand befindet. 46.000 Menschen sitzen als vermeintliche Verschwörer in Haft, rund 130.000 Beamte wurden vom Dienst suspendiert.
Je mehr Erdogans Land durch die Weltgeschichte schlingert, torkelt und taumelt, desto lauter, aggressiver und hysterischer wird seine Rhetorik. Wobei der türkische Präsident in einem Punkt recht hat: Dass Europas Politiker sich nach dem Putschversuch nicht sofort hinter ihn gestellt haben ist unverzeihlich.
Nach der jüngsten Welle der Anwürfe gegen EU-Mitgliedsländer riskiert Erdogan endgültig den Bruch mit Europa.
Die EU-Kommission, die bisher immer kalmierend gewirkt hat, hat sich nun zu Wort gemeldet. In einer gemeinsamen Erklärung haben EU-Außenbeauftragte Federica Mogherini und der für die EU-Erweiterung zuständige Kommissar Johannes Hahn "ernsthafte Bedenken" zum geplanten Verfassungsreferendum geäußert. Die neue Verfassung würde eine "exzessive Konzentration von Macht in einem Amt" bringen und "Auswirkungen" auf staatliche Kontrollmechanismen und die Unabhängigkeit der Justiz haben. Beide warben aber eindringlich für eine "Beruhigung der Lage".
Türkische AKP-Politiker beschwören ihrerseits lustvoll das Ende jener EU, der sie noch bis vor kurzem beitreten wollten. Doch was soll angesichts der derzeitigen Feindseligkeiten zwischen Europa und der Türkei aus einer EU-Beitritts-Perspektive werden?
Sorge um die Beziehungen
Der türkische Europaminister Ömer Celik hat am Montag damit aufhorchen lassen, das Flüchtlingsabkommen mit der EU in Teilen auszusetzen. Die Regierung in Ankara sollte nach seinen Worten die Absperrung des Landweges Richtung Griechenland und Bulgarien "überprüfen", sagte Celik am Montag der Nachrichtenagentur Anadolu. Celik übersieht dabei, dass die Türkei letztlich am kürzeren Ast sitzt: Die Balkanroute ist längst nicht mehr offen. Und wirtschaftlich ist die Türkei von der EU abhängig: Der größte Teil der türkischen Exporte geht in die EU. Sollten die EU-Länder vor Reisen in die Türkei warnen, wäre das ein weiterer schwerer Schlag für die ohnehin am Boden liegende türkische Tourismuswirtschaft.
Sogar Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg hatte sich zuletzt zu Wort gemeldet: Er forderte beide Seiten auf, "sich auf alles zu konzentrieren, was uns eint". Doch das ist im Moment sehr wenig: Denn die osmanischen Drohgebärden gehen weiter.