Die Renaissance des Zeppelin, speziell seiner bereits 100-jährigen Konstruktionsidee, die Erdgravitation durch Luftauftrieb anstatt durch energieverzehrende Motorenkraft zu überwinden, ist offenbar nicht mehr aufzuhalten. Seit dem 15. August 2001 steigen Zeppelin-Kollosse der Zahnradfabrik Friedrichshafen (ZF) am Bodensee wieder zu touristischen Rundflügen mit einzigartigem Alpenpanorama auf, während im neuen Bundesland Brandenburg ein neu gegründetes Unternehmen, die börsennotierte Cargolifter GmbH, modernste Groß-Zeppeline von zirka 250 m Länge baut, die Lasten bis 150 Tonnen ohne Umladen und Straßenbenutzung einfach und direkt durch die Lüfte transportieren will.
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Auf die ebenfalls neue Idee, den langsamen Gleitflug des Zeppelins oder gar sein mögliches stationäres Stillstehen in der Luft mit den technisch neuen Analysemöglichkeiten einer elektronischen Mikronase zu verbinden, kamen Wissenschaftler des Forschungszentrums Karlsruhe (FZK) und kreierten den Umweltschutz-Zeppelin "Lena" (Luftschiff mit elektronischer Nase). Derzeit wird am Karlsruher Forschungszentrum, das früher einen Atomforschungsreaktor beherbergte und inzwischen über 3.500 Mitarbeiter umfasst, ein erster ferngesteuerter Klein-Zeppelin, "Lena", mit elektronischer Nase, Videokamera und Sonde für Bodenproben getestet.
Technisch versiertes und erprobtes Instrument
Baldige Einsätze des technisch hochgerüsteten Langsamfliegers als Umweltschützer und -wächter auf und über gefährlichen Sondermülldeponien, grossen chemischen Anlagen oder entlang von Pipelines sind vorgesehen. Sogar einen Einsatz "Lenas" als "Minensuchhund" im Kosovo können sich Dr. Joachim Goschnick und sein Mitarbeiter Dr. Michael Harms vom FZK vorstellen.
Auf eigene Initiative und Kosten von rund 50.000 DM erwarb das Forschungszentrum Karlsruhe (FZK), an dem nach Rückführung der Nuklearforschung an neuen Zukunftstechniken aus Medizin und Wissenschaften gearbeitet wird, von einer Stockacher Firma am Bodensee einen Werbe-Zeppelin. Mit 8,75 m Länge, einem grössten Durchmesser von 2,70 m sowie einem Volumen von 27 m3 Heliumgas konnte das erworbene Werbe-Luftschifffahrzeug zwar nur rund 4 kg zuladen, doch mussten die Karlsruher Wissenschaftler für die Bestückung mit technischem Gerät nicht einmal bis zu diesem Limit gehen.
Drei Elektromotoren verleihen dem Luftschiff eine maximale Reisegeschwindigkeit von 60 km/h. Gesteuert wird Lena von einer mit zwei Personen besetzten Bodenstation per Funk, die jeweilige Positionsmeldung erfolgt über GPS (Global Positioning System), so Harms.
Dass ein technisch gesehen rund 100 Jahre altes "Fluggerät" nun zu einem Einsatz im modernen Umweltschutz kommt, verdankt der Zeppelin seiner bis heute auch von Hubschraubern nicht gleichermassen erreichten Eigenschaft, ohne viel Luftbewegung, Umweltschädigungen oder Lärm über gefährlichen Orten, z.B. über chemisch verseuchtem Gelände, an Leckagen von Gasbehältern, an grossen Gastanks oder auch an Gaspipelines langsam entlang zu gleiten.
"Sogar durch den Rauch grosser Fabrikschornsteine kann Lena fliegen, die Rauchgase innerhalb von 60 Sekunden analysieren und so wichtige Hinweise über Toxizität und Gesundheitsgefährung einer Gaswolke per Funk liefern", erläutert Forschungsgruppenleiter Goschnik. Der kostengünstig erworbene Klein-Zeppelin schwebt ja praktisch dank seiner Heliumfüllung und seines starken Auftriebs in der Luft und benötigt dazu keine starken Motoren. "Das macht Lena", so Goschnik weiter, "ideal für seine Aufgaben als stationärer Umweltschützer."
Karlsruher Mikronase als Herzstück
Mehrere Monate benötigten die Karlsruher Wissenschaftler, um "Lena" technisch hochzurüsten: Neben der Videokamera wichtigstes Sensorium ist "Kamina" (Karlsruher Mikronase), das elektronische Riech- bzw. Geruchsanalysesystem auf Sensorbasis, das ebenfalls am Forschungszentrum Karlsruhe entwickelt wurde und seit zwei Jahren einsatzfähig ist.
"Kamina" kann sowohl in der Luft als auch zur Analyse von Bodenproben eingesetzt werden. Dabei wird eine Sonde in oder über die Schüttung bzw. den Boden geführt und saugt mit einer Mikropumpe über ein kleines Rohr mit integrierter Staubschutz-Fritte Luft an, die "Kamina" zur Gasanalyse zugeführt wird. Für die Gasflussregelung ist auch eine "Kamina"-spezifische Software entwickelt worden: Innerhalb von 60 sec. liefert "Kamina" die Gasanalyse-Ergebnisse an die Bodenstation, teilt mit, ob eine Gesundheitsgefährdung bei einem eingetretenen Umwelt-Unfall vorliegt oder nicht.
Aktivitätszentrum dieser elektronischen Nase ist ein pfenniggrosser Chip, der auf der Vorderseite 38 graduell unterschiedliche Gassensorsegmente trägt, die durch Unterteilung eines Metalloxidfilms mit parallelen Elektroden entstehen. Der Temperaturgradient bis rund 300 Grad C besitzt am oberen und unteren Ende des Chips je einen Temperaturfühler, während auf der Chiprückseite sich vier winzige, voneinander unabhängige Heizmäander befinden.
"Die Kamina-spezifische Gradiententechnik besteht in einer stationären Variation der Oberflächentemperatur sowie der Dicke der gaspermeablen SiO2-Beschichtung", erklärt Harms, Mitarbeiter von Goschnik und Chemiker am FZK, "und wir haben diese kleine 'Spürnase' auf Messen und Ausstellungen, zuletzt in Hannover, dem Publikum bereits gezeigt und praktisch erprobt." Seit kurzem ist "Kamina" auch im Handel erhältlich.
Erfahrungen im Umweltschutz sammelten die Karlsruher Wissenschaftler bereits bei mehreren Messanalyse-Projekten: "Neulich", erklärt Harms bereitwillig, "haben wir an der Autobahn Heidelberg-Mannheim an zwei links und rechts an der Seite aufgestellten 50 m hohen Krantürmen die Schadstoff-Emissionen aus Kraftfahrzeugen in der Luft, darunter auch feinste Partikel, analysiert und bestimmt." Neben der elektronischen Nase erhält "Lena" später möglicherweise eine Infrarot-Kamera. Die derzeit vorgesehene Videokamera übermittelt ihre Bilder ebenfalls auf einen Monitor der Bodenstation. So kann eine effiziente, vorbeugende Luftüberwachung der Umwelt vonstatten gehen, können z.B. frühzeitig sich anbahnende Betriebsunfälle erkannt werden. Ein Mitarbeiter der "Lena-Bodenstation", im besten Fall ein Wissenschaftler oder Techniker, wertet die übermittelten Daten aus und trifft geeignete Massnahmen bzw. schlägt diese andernorts vor. Dann kann umgehend Giftgasalarm oder -warnung ausgelöst werden.
Als "Minensuchhund" im Kosovo?
Bei den Olympischen Spielen 2004 in Athen soll, so wird berichtet, ein stationärer Zeppelin mit Videokamera über der griechischen Hauptstadt für mehr Sicherheit in der Umwelt sorgen. Da mit "Lena" auch Erdreichproben bzw. -analytik durch Tiefflug über dem Boden betrieben werden kann, ist ihr Einsatz auch in für Menschen unzugänglichem Gelände prädestiniert, beispielsweise auf durch Umweltunfälle verseuchtem Gelände, über Sondermülldeponien, Industrieanlagen schwebend als permanenter Umweltschützer oder an Gas- und Ölpipelines in niedriger Höhe entlanggleitend, um eventuelle Leckagen oder kleinere Gasaustritte festzustellen oder zu "erschnüffeln".
Als Beobachter aus der Luft wie als "Schnüffler" kann "Lena" seine Umweltwächter-Funktion über industriellen Grossanlagen ausüben, bei Umweltunfällen frühzeitig wissenschaftliche Informationen über eventuelle Gesundheitsgefährdungen der Anwohner in der unmittelbaren Nachbarschaft oder einer Stadtbevölkerung liefern, sind sich die beiden Chemiker vom FZ Karlsruhe vom erfolgreichen Einsatz ihres Zusammenbaus sicher.
Ein ethisch ganz besonders wertvolles Einsatzgebiet für ihr "Lena" können sie ausserdem offerieren: "Da Lena geräusch- und störungsarm über dem Erdboden gleiten kann, wäre mit Kamina auch ein Einsatz als 'Minensuchhund' z.B. im Kosovo oder in Afghanistan möglich!" - Eine Vielzahl neuer technischer Verwendungen und Einsatzmöglichkeiten für das technisch optimal bestückte "Lena" tun sich also auf, das erste Probeflüge bereits hinter sich hat und auch der Öffentlichkeit vorgestellt werden soll.
Sprengstoff noch im Test
Das seit dem 11. September 2001 verhängte Flugverbot über der Stadt Karlsruhe umgingen die Wissenschaftler mit dem Umzug auf einen nahegelegenen Segelflugplatz. Kürzlich hat die elektronische Nase "Kamina" erste Riechtests an einem ein mg (Milligramm) schweren Stück TNT-Sprengstoff absolviert, allerdings mit wenig Erfolg, berichtet Harms. Nun will man grössere Stücke Sprengstoff ausprobieren, um Kamina zu deutlicheren Reaktionen zu veranlassen.
Für das gute alte "Luftschiff" des Grafen Zeppelin vom Bodensee aber gilt, dass selbst in Zeiten des doppelten Überschall-Flugverkehrs seiner beeindruckenden Wiederkehr nichts mehr entgegensteht.