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Der zerstörte Glaube eines Rationalisten

Von David Ignatius

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Der Autor war Chefredakteur der "International Herald Tribune". Seine Kolumne erscheint auch in der "Washington Post".

Die Erinnerung an den ehemaligen US-Verteidigungsministers Robert McNamara kann uns vielleicht davor bewahren, uns unserer Einschätzungen allzu sicher zu sein.


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Ich bin im Schatten des ehemaligen US-Verteidigungsministers Robert McNamara aufgewachsen, fast im wörtlichen Sinn. Mein Vater, Paul Ignatius, arbeitete seit 1961 in McNamaras Team im Pentagon als enger Berater, auch während des Vietnam-Krieges. Später waren die beiden privat befreundet. Bei mir hat McNamaras Tod daher eine Fülle von Erinnerungen geweckt an die Verhältnisse, an die Träume und an die Veränderungen des Washington der 60er Jahre.

McNamara kam als eingefleischter Rationalist nach Washington. Er glaubte daran, aus dem bürokratischen Morast im Verteidigungsministerium etwas Modernes, Leistungsfähiges machen zu können. Er engagierte junge Mitarbeiter wie meinen Vater und ermutigte und unterstützte sie, Veraltetes in Frage zu stellen.

Das Militär hat McNamara diese Entschlossenheit, Landesverteidigung mit modernen Managementmethoden zu betreiben, nie verziehen. Die Generäle und Admiräle wollten keine Rationalisierung. Sie nahmen es ihm übel, dass er ihnen Veränderungen aufzwingen wollte.

Und dann kam Vietnam, der Krieg, der für immer mit dem Namen McNamara verbunden sein wird. Vietnam zerstörte den Glauben des Rationalisten: Da trotzten doch tatsächlich Bauern - in Kleidung, die für uns wie ein Pyjama aussah, und ernährt lediglich von einer Handvoll Reis - all der Macht, die das US-Militär aufbringen konnte. Und sie machten alle von McNamara auf seinem Rechenschieber erstellten Kalkulationen zunichte.

Das Militär bestand darauf: Noch einmal 100.000 Soldaten und eine noch längere Liste von Bombardierungszielen, und dieser unmögliche Feind wäre erledigt. Diese Art von Krieg zermürbte McNamara nach und nach völlig.

Trotz all der äußerlich zur Schau getragenen Bestimmtheit kam McNamara immer mehr zu dem Schluss, dass die militärische Stärke der USA in diesem ungleichen Krieg nie richtig Wirkung zeigen kann. Für das Militär war das seine größte Sünde: Er opferte Menschen, ohne noch von der Möglichkeit, tatsächlich siegen zu können, überzeugt zu sein.

Während des Vietnamkriegs wirkten seine Mitarbeiter, Männer, die Fehlschläge bis dahin nicht gekannt hatten, als hätten sie ein riesiges Gewicht mit sich herumzuschleppen.

Zu sehen, wie diese erfolgsverwöhnten Menschen unter der Entwicklung in Vietnam litten, war quälend. Es war, als wäre ein toller Sportwagen mit Höchstgeschwindigkeit gegen eine Mauer gekracht.

McNamara war viel sensibler als die meisten wussten. In den letzten Monaten, bevor er das Pentagon Anfang 1968 verließ, hatte er Schwierigkeiten, seine Gefühle in der Öffentlichkeit unter Kontrolle zu halten. In späteren Jahren wirkte er sehr verletzlich. Er wollte den Fehler, der in Vietnam gemacht wurde, unbedingt verstehen und irgendwie wieder in Ordnung bringen.

Ein Urteil über McNamara ist heute schwierig für mich. In meiner Jugend war die Sache ganz einfach: Der Vietnamkrieg war falsch, und ich schloss mich der Protestbewegung an, um sein Ende zu fordern.

Aber im Lauf der Zeit und mit der Anhäufung eigener Fehlurteile bin ich zu einer anderen Sichtweise gelangt und hüte mich lieber vor dieser Falle allzu großer Sicherheit, die McNamara zum Verhängnis geworden ist. Auch wenn man sich noch so sehr bemüht, kann man nicht immer alle Probleme lösen.

Gerade die Erinnerung an McNamara kann uns vielleicht davor bewahren, uns unserer Einschätzungen allzu sicher zu sein. Gerade sein Andenken kann hilfreich sein, die Möglichkeit, sich zu irren, in Betracht zu ziehen - besonders wenn man sich einer Sache hundertprozentig sicher ist.

Übersetzung: Redaktion