Der Fall des "steirischen Cowboys" Alois S., der 1953 von Gendarmen erschossen wurde, führte zu einer Kampagne gegen "Schmutz- und Schund"-Literatur, die den jungen Mann angeblich verdorben hatte. Eine Sitten- und Mediengeschichte aus den 50er Jahren.
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Am 31. Oktober 1953, gegen 10:30 Uhr, meldete der kleine südsteirische Gendarmerieposten Pölfingbrunn dem Bezirkskommando Deutschlandsberg, dass in der Gegend von St. Ulrich im Greith, Bezirk Deutschlandsberg, ein berittener, schwer bewaffneter "Titosoldat" gesichtet worden sei. Patrouillen des Gendarmeriepostens waren bereits zur Nachforschung ausgesandt.
Rätselhafter Reiter
Wie sich bald herausstellte, handelte es sich bei dem Reiter in dunkler uniformähnlicher Bekleidung nicht um einen jugoslawischen Soldaten, sondern um einen bewaffneten Zivilisten, der Zeugen gegenüber angegeben hatte, den Mörder einer Engländerin zu suchen. Berichte über einen Mord lagen nicht vor - was den Reiter antrieb, war rätselhaft.
Die Gendarmen verfolgten die Spuren des Unbekannten, der sich südwärts Richtung jugoslawischer Grenze hielt. Da er Straßen und Wege verließ und querfeldein ritt, verloren die Verfolger die Spur und beendeten die Suche mit Einbruch der Dunkelheit.
Am nächsten Tag wechselte der Reiter die Route und ritt nun gegen Westen. Zwar wurde er immer wieder von Zeugen gesehen, dennoch blieb die Suche erfolglos. Inzwischen konnte seine Identität geklärt werden. Es handelte sich um den 20-jährigen Landarbeiter Alois S., unehelicher Sohn einer Winzerin, der am 30. Oktober in der Nähe von Leutschach zunächst eine braune Haflingerstute gestohlen hatte.
Danach bedrohte er, so berichtete eine Zeitung später, mit den Worten "Jetzt wird abgerechnet!" einen Hausbesitzer mit einer Waffe. Außerdem war ein Schreiben aufgetaucht, in dem S. in anrührender Rechtschreibung seiner Mutter von einer großen Reise berichtete, zu der er aufgebrochen sei und von der er nicht rückzukehren gedenke: "Ich werde so weid gehen bies ich Tod bien." Alarmiert war die Gendarmerie durch den Satz "sol einer zu mir halt sprechen den werde abknaln". Bei der Verfolgung wurde eine russische Maschinenpistolenpa-trone gefunden: Nun galt der Reiter als extrem gefährlich. Mit Waffengebrauch wurde gerechnet.
Showdown im Nebel
Am 2. November, es war der vierte Tag von S.’ großer Reise, brachen neun Gendarmeriebeamte vom Bergdorf Glashütten in der Gemeinde Gressenberg, das sich etwas über 30 km von S.’ Wohnadresse entfernt befindet, auf. S. war von Holzarbeitern gesehen worden. In der Nähe von Glashütten führt ein Pfad über die Koralpe nach Kärnten. Die Gendarmen waren sicher, dass S. diese Route einschlagen würde. Es gab Gerüchte, wonach er nach Italien wollte. Der Flüchtige hatte Zeugenaussagen zufolge in einer Holzarbeiterhütte zwei Wolldecken gestohlen und in einem abgelegenen Bauernhof übernachtet.
Am Morgen des 4. November lag dichter Nebel. Die Verfolger vermuteten S. deshalb noch in seinem Übernachtungsquartier und planten, ihn dort zu stellen. Sie verpassten ihn knapp. Drei Suchpatrouillen wurden gebildet, der 29-jährige Gendarm Alois P. nahm mit drei Kollegen die Verfolgung der Pferdespuren auf. Kaum hatte der Suchtrupp ein Waldstück durchquert, tauchte der gesuchte Reiter plötzlich direkt vor P., der an der Spitze der kleinen Gruppe ging, auf. Die Gendarmen werden später aussagen, dass S. den Ruf "Halt, Gendarmerie!" nicht beachtet habe, direkt auf sie zugaloppiert und im Begriff gewesen sei, den am Sattel befestigten Karabiner zu ziehen.
Zwei Gendarmen feuerten auf S. Höhnisch gelacht habe der Getroffene, als er vom Pferd stürzte, so ein Gendarm. Die Männer gaben an, dass sie sich dem auf dem Boden Liegenden auf zehn Schritte genähert hatten, als er seine Pistole auf sie richtete. Drei Gendarmen schossen beinahe zeitgleich: Ein Kopf- und ein Brustschuss töteten S. sofort.
Westernfilm-Fan
Eine Gerichtskommission begutachtete nur wenig später den Tatort. S. lag am Rücken. Das knabenhafte Gesicht war zur Seite gesunken. Er trug schwarze Wehrmachtskleidung aus Drillich und einen schwarz gefärbten Steirerhut, um den ein breites rotes Band geschlungen war. Der Hut, unter dem Kinn mit einem Lederband fixiert, saß straff. Rosettenartige Stoffblumen schmückten den Hemdkragen. Um die Hüfte hatte S. einen Ledergürtel mit 80 Pistolenpatronen gebunden. Eine entsicherte Pistole, ein geladener Karabiner und ein Dolch wurden sichergestellt.
S.’ Reise und vor allem der filmreife finale Showdown erregten großes Aufsehen. S.’ Kleidung glich frappierend der des Zorro-Hauptdarstellers in den gleichnamigen US-amerikanischen Westernfilmen- und Romanheftserien, die sich vor allem bei der männlichen Jugend hoher Beliebtheit erfreuten. "Cowboyfreiheit. Durch Schundbüchel ins Grab gebracht"; "Cowboy wurde von Gendarmen erschossen. Tragisches Schicksal eines irrsinnigen Bauernburschen"; "Tragisches Ende einer Cowboyromantik" - die Zeitungen stürzten sich auf die ungewöhnliche Geschichte. S. wurde als begeisterter Leser von Wildwestromanen bzw. Liebhaber von Westernfilmen beschrieben.
Unersättlich sei er in der Lektüre von Romanheften gewesen, und keinen Westernfilm hätte er versäumt. Außerdem wurde von weiteren angeblichen Vorfällen berichtet, die in das Bild des Möchtegern-Western-Outlaws passten: S. habe während seiner viertägigen Reise unter Waffengewalt in einsamen Gehöften Nahrung und in einem Gasthof Most und Zigaretten eingefordert.
Der Vorfall traf den Nerv der Zeit: Ab dem Ende der 1940er Jahre wurden in Österreich Westernfilme und -romane ebenso wie andere populäre Medien massiv als "Schmutz und Schund" bekämpft. Illustrierte Zeitschriften, Heftromane, Comics und Unterhaltungsfilme wurden von Bildungskreisen und der katholischen Kirche beschuldigt, "niedrige Instinkte" zu wecken und "triebauslösend" zu wirken. Der Konsum populärer Medien beeinträchtige den "Volkskörper", schwäche vor allem Heranwachsende, wurde argumentiert. Dass Medienkonsum der Auslöser von "Jugendkriminalität" bzw. "-verwahrlosung" war, galt als unbestritten.
ÖVP-Unterrichtsminister Heinrich Drimmel, ein tiefgläubiger Katholik, erklärte den "Kampf gegen Schmutz und Schund" zur "res publica". Die Jugend sei "minderwertigen" Medien einem Atomkrieg gleich ausgesetzt. Der Staat müsse eingreifen, wo "alle anderen Sicherungsmittel der menschlichen Gemeinschaft" versagen, so Drimmel 1955.
Der Tod von S. war Wasser auf den Mühlen der "Schmutz und Schund"-Bekämpfer und Jugendschützer. S. sei das "Opfer einer lächerlichen Romantik, die er in den Schundheften zusammengelesen und bei Wildwestfilmen erträumt hatte", war in der katholischen Wochenschrift "Der Volksbote" zu lesen. "Glücklicherweise stirbt ja nicht jeder Schundbüchlleser einen solchen ‚Heldentod‘. Aber etwas stirbt in jedem von ihnen, selbst wenn sie nicht kriminell geworden sind", schrieb Alois Jalkotzy, Ende der 1940er Jahre Leiter der niederösterreichischen Jugenderziehungsanstalt Eggenburg, in Reaktion auf den Vorfall.
Jalkotzy, engagierter sozialdemokratischer Pädagoge, hatte gerade ein kleines Buch über die angeblich "verdorbene Jugend" pu-bliziert, in dem er Erfahrungen mit Heimzöglingen verarbeitete. "Massenvergiftung" durch "Schmutz und Schund" war seiner Überzeugung nach eine Hauptursache für die "Verwahrlosung" von Jugendlichen, die den Weg zu "sittlicher Gesundheit" wiederfinden mussten.
Die Wahrung der "Sittlichkeit" war nicht nur das wichtigste Anliegen engagierter "Kämpfer gegen Schmutz und Schund", sondern auch wesentlicher Bestandteil des nach 1945 angestrebten Ideals des "neuen" österreichischen Menschen. Ein von Kirche und Autoritäten gefordertes "sittliches" Wohlverhalten ging über eine restriktive Sexualmoral und die Beibehaltung des traditionellen Geschlechterverhältnisses hinaus: Arbeitswille und Gemeinschaftssinn, aber auch eine optimistische Grundhaltung und der Glaube an die Zukunft waren Werte, die in der Nachkriegszeit als essenziell für den Bestand der jungen Zweiten Republik gehalten wurden.
"Asoziales Verhalten"
Freizeit sollte der "neue Österreicher" für körperliche Ertüchtigung oder zur Bildung nutzen, "ziellose" Freizeitvergnügungen wie Kinogehen oder Tanzen wurden als gemeinschaftsschädigend angesehen. Vom Idealbild abweichendes Verhalten bedurfte einer Korrektur - ein umfassendes System von Volksbildungs- und Sozialeinrichtungen wurde aufgebaut. "Schwierig gewordene" Kinder und Jugendliche müssten ihrer Umgebung entzogen werden, um zu gesunden, forderte etwa Alois Jalkotzy.
Der zu Beginn des 19. Jahrhunderts erfundene "moralische Schwachsinn" erlebte die Wiederaufnahme als diagnostiziertes "Krankheitsbild", angeblich gekennzeichnet durch "hemmungslosen Egoismus" und Gefühlskälte. So wies etwa Otto Tumlirz, ehemals illegaler Nationalsozialist und Verfechter der Rassenlehre, der zwar nach 1945 den Lehrstuhl für Pädagogik und Psychologie in Graz verlor, aber weiterhin als Gutachter für das Jugendamt arbeitete, Jugendliche aufgrund von "moralischem Schwachsinn" in die Jugenderziehungsanstalt Kaiserebersdorf ein.
Störaktionen in Kinos
Tumlirz’ Ansichten waren zwar in Wissenschaftskreisen umstritten, in der Ablehnung von "asozialem Verhalten" konnten sich aber Vertreter aller ideologischen Richtungen finden. Nicht nur Konservative und Katholiken, sondern auch Kommunisten und Sozialdemokraten sahen in der Orientierung am "Wahren, Guten und Schönen", also an bürgerlichen Werten, den Weg zur geistigen Erneuerung nach 1945.
Eine Pädagogisierung der Gesellschaft kennzeichnete die Nachkriegsjahre: Nach dem Scheitern der Ersten Republik und der Involvierung in den Nationalsozialismus hielten die Autoritäten das österreichische Volk nicht für befähigt, ohne staatliche Intervention auch in private Bereiche ein funktionierendes Gemeinwesen aufzubauen. Über Kontrolle und Regulation des Lebens sollten Gesellschaft und Menschen nach bürgerlichen Vorstellungen von Sexualmoral und Arbeitsethik geformt werden.
Dabei wurde die Hoffnung allerdings nicht in das durch politische Wirrnisse und den Nationalsozialismus "befleckte" Staatsvolk gelegt, sondern vor allem an idealen Rahmenbedingungen für eine künftige "reine" Generation gearbeitet. Aus Sicht von Bildungsverantwortlichen waren auch Jugendliche bereits verloren: Sie wurden zunächst als durch Faschismus und Krieg verroht bzw. in den 1950er Jahren als "wohlstandsverwahrlost" kritisiert.
Vor allem US-amerikanischen Unterhaltungsfilmen wurde eine "kriminalisierende" Wirkung auf Jugendliche zugeschrieben. Im Frühjahr 1948 kam es in Wien und den Bundesländern zu lautstarken Protest- und Störaktionen in Kinos, die nicht selten mit Polizeieinsatz endeten. Angehörige der "Katholischen Jugend" forderten, oftmals gemeinsam mit anderen Jugendorganisationen wie der kommunistisch dominierten "Freien Österreichischen Jugend", die Absetzung unerwünschter Filme.
Die Verbindung unterschiedlicher weltanschaulicher Lager zeugt von einem gemeinsamen Verständnis von Kultur und gesellschaftlicher Ordnung. Da beschworen in wahrer "Don Camillo und Peppone"-Manier schon einmal der kommunistische Funktionär und der katholische Pfarrer gemeinsam den örtlichen Kinobesitzer, "Schundfilme" abzusetzen.
Die SPÖ stand dem "Kampf gegen Schmutz und Schund" zunächst reserviert gegenüber und sprach sich gegen Zensur und übertriebene Sexualmoral aus. Der Druck der eigenen Parteigänger führte aber dazu, dass sich auch die Sozialdemokraten der vorherrschenden Meinung anschlossen.
Bereits seit 1950 war das sogenannte "Schmutz und Schund"-Gesetz in Kraft, das gegen anstößige Druckwerke und Bilder eingesetzt wurde. Bücher, Comic- und Romanheftserien wurden beschlagnahmt bzw. Verurteilungen wegen des Verkaufs von "sittenwidrigen" Bildern und Büchern ausgesprochen. Die Polizei kon-trollierte die Kinos: Minderjährige, die sich in verbotene Filme einschlichen, wurden abgeführt und verwarnt. Es kam zu Fällen von Filmzensur, die jedoch der Verfassungsgerichtshof später als verfassungswidrig aufhob.
Von Bildungskreisen und katholischen Gruppierungen mit großem Engagement initiiert und betrieben, konnte in der Hochphase des "Kampfes" 1956 nach Angaben der Initiatoren eine Million Österreicherinnen und Österreicher mobilisiert werden, eine Petition gegen "Schmutz und Schund" zu unterschreiben. Auch wenn die Zahl heute nicht mehr verifiziert werden kann, gehört die Unterschriftenaktion wohl zu den erfolgreichsten Meinungskundgebungen in Österreich.
Die "Schmutz und Schund"-Hysterie, die 1958 nach mehreren Fällen von Jugendkriminalität noch einen letzten Höhepunkt erlebte, ebbte mit Beginn der 1960er Jahre langsam ab. Auch in Österreich setzte ein gesellschaftlicher Wandlungsprozess ein, welcher der staatlichen Moralisierungskampagne den Nährboden entzog. Populärkultur wurde zunehmend nicht nur akzeptiert, sondern zur Norm des Freizeitverhaltens. Der "Kampf gegen Schmutz und Schund" war alsbald nur noch eine kuriose Randnote der Geschichte.
Tötung aus Notwehr
Der Fall des steirischen Cowboys Alois S. geriet bald in Vergessenheit. Gründe und Vorgeschichte des Ausbruchs aus dem Alltagsleben wurden weder von der Gendarmerie noch vom Gericht ausgeforscht. Das in reißerischen Zeitungsberichten gezeichnete Bild des von "Schmutz und Schund" ins Verderben gestürzten Burschen bedurfte offensichtlich keiner Korrektur. Das Bezirksgericht Deutschlandsberg wertete die Tötung des jungen Mannes als Notwehr und sprach die Gendarmen von jeder Schuld frei. Zweifel darüber, ob Alois S. den Suchtrupp tatsächlich angegriffen hatte oder ob die Gendarmen, ermüdet von der tagelangen Suche nach dem vermeintlich hochgefährlichen Reiter, überreagierten, kamen nicht auf.
Die Mutter des Toten erhielt die wenigen verbliebenen Habseligkeiten - darunter ein rotes Wachstuch, Handgelenksbänder aus Leder, ein paar Bildchen, ein Taschenmesser und Zündhölzer. Im März 1954 wurde der Akt geschlossen.
Edith Blaschitz ist Historikerin, Medienwissenschafterin und Zentrumsleiterin am Department für Interaktive Medien und Bildungstechnologien der Donau-Universität Krems. Forschungsschwerpunkte: Medienkultur, visuelle Kultur, Filmgeschichte.