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Der Zukunft zugewandt

Von Radoslaw Zak

Wissen

Polens Nationalstadion hat eine wechselvolle Geschichte hinter sich.


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Warschau. Wenn es Nacht wird in Warschau, leuchtet das neue Wahrzeichen der polnischen Hauptstadt kilometerweit weiß-rot im Dunkeln. Das am rechten Weichselufer im Stadtteil Praga für die Europameisterschaft errichtete Nationalstadion ist für die Touristen in der Innenstadt dann ganz besonders gut zu sehen - und ein beliebtes Fotomotiv. Wie das ehemals wegen seinen gefährlichen Hinterhöfen und Kriminalität verrufene Praga, das heute immer mehr zu einem In-Viertel für Künstler, Studenten und junge Firmengründer mutiert, ist die 55.000 Zuschauer fassende Arena Symbol für Polens Aufbruch.

67 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und 23 Jahre nach dem Zusammenbruch der Volksrepublik blickt Polen einer rosigen Zukunft entgegen. Laut einer 2011 durchgeführten Studie zur gefühlten Lebensqualität der Polen gaben 81 Prozent der Befragten an, glücklich zu sein. Kein Wunder, schließlich boomt Polen wie kaum ein anderes Land. Als 2009 die Weltwirtschaftskrise Deutschlands, Italiens und Großbritanniens Volkswirtschaften um etwa fünf Prozent schrumpfen ließen, schaffte Polen als einziger europäischer Staat ein Plus von 1,7 Prozent, zwei Jahre später wurde wieder die Marke 4,4 Prozent erreicht.

Dort wo das Nationalstadion heute steht, ließ Josef Stalin 1944 Truppen der Roten Armee untätig abwarten, während auf dem anderen Weichselufer Untergrundkämpfer der Polnischen Heimatarmee einen aussichtslosen Kampf gegen die deutschen Besatzer führten. Laut polnischen Historikern fanden neben den 45.000 Aufständischen 225.000 Zivilisten den Tod. Die Russen kamen erst über die Weichsel, nachdem die Würfel gefallen waren. Elf Jahre später wurde das von Polens kommunistischen Moskauvasallen in Auftrag gegebene "Stadion des zehnten Jahrestages" eröffnet. Die über 70.000 Zuschauer fassende Betonschüssel wurde aus Kriegstrümmern in einer Rekordzeit von elf Monaten errichtet, es diente als Hauptstätte beim fünften Weltfestival der Jugend und Studenten.

Über Umwege in die Kabine

"Wir haben im Sinne der Allgemeinheit daran gebaut", erinnert sich der ehemalige Hydrauliker Waldemar. "Es ist viel Arbeit gewesen, aber das fertige Objekt erfüllte uns mit Stolz." Der Name des Stadions ging auf den zehnten Jahrestag des Juli-Manifests zurück, mit dem die moskautreue provisorische polnische Regierung 1944 ihre Machtergreifung erklärte. Weil an den Bauarbeiten erst im August 1954 begonnen wurde, fand die Eröffnung ein Jahr nach dem Jubiläum statt.

Das Stadion war bei sozialistischen Erntedankfesten mit bis zu 100.000 Menschen gefüllt, ähnliche Frequenzen wurden auch bei Leichtathletik- und Fußballspielen erreicht. Doch schon schnell kamen negative Aspekte des Baus zum Vorschein. Die Tribünen waren nicht überdacht, der Weg in die Umkleidekabinen dauerte knappe zehn Minuten, weswegen die Halbzeitpause bei Fußballspielen auf eine halbe Stunde ausgedehnt werden musste, Flutlicht war nicht vorhanden. "Beim Einbruch der Dämmerung verbrannten die Zuschauer Broschüren, Zeitungen oder Müll. Das war schon ein beeindruckender Anblick", sagt Waldemar.

Feuer spielte auch bei den Erntedankfestfeierlichkeiten 1968 eine wichtige Rolle. Ryszard Siwiec, gläubiger Katholik und ehemaliger Lehrer, wählte das aus allen Nähten platzende Stadion zur Bühne seines Protests gegen die Beteiligung polnischer Truppen am sowjetischen Einmarsch in der Tschechoslowakei. Während die angrenzenden Zuschauer mit Jacken versuchten, das Feuer zu löschen, nahm die Massenchoreographie auf dem Rasen ihren Lauf. Seine Aktion wurde in der Volksrepublik totgeschwiegen. Im Jänner des darauffolgenden Jahres wählte Jan Palach die gleiche Form des Protestes auf dem Prager Wenzelsplatz.

Basar im Stadion

Ab den 1970er Jahren verfiel das Stadion zusehends, so wie das realsozialistische System in Polen. Der fünfundzwanzigste und letzte Auftritt der polnischen Nationalmannschaft ging im April 1983 über die Bühne. Polen trennte sich 1:1 von Finnland. Zwei Monate später wurde das 1981 verhängte Kriegsrecht aufgehoben, der Siegeszug der Solidarnosc nahm seinen Lauf.

Als Lech Walesa 1990 in den ersten freien Wahlen zum Präsidenten der Dritten Polnischen Republik gewählt wurde, prägten schon die ersten Händler des "Jarmark Europa" das Bild im und um das Stadion. Die freie Marktwirtschaft hatte Einzug erhalten. Die Betreiberfirma Damis meldete offiziell rund 5000 Unternehmer an, die auch halbseidenen Geschäften nachgingen. Neben Zigaretten, Alkohol, Waffen, Drogen und Parfums florierte vor allem der Handel gut gefälschtem Markengewand und raubkopierten CDs. Der 37-jährige Artur, der in Praga eine Bar betreibt, wurde mit dem Basar groß: "Neue Alben von Nirvana, Michael Jackson oder Metallica gab es hier zu einem erschwinglichen Preis. Nicht nur Warschauer kamen hierher, Leute aus ganz Polen nahmen die Anreise auf sich."

Ende der 1990er Jahre war das Stadion eine inoffizielle Touristenattraktion und regelmäßig aufgesucht. Der Jarmark wurde toleriert, viele Händler behaupteten, dass sich die Polizei für das Verschließen der Augen schmieren ließ. Erst nach dem EU-Beitritt 2004 änderte sich die Lage. In regelmäßigen Kontrollen wurde illegale Ware konfisziert und vernichtet. Die Verleihung der Europameisterschaft an Polen und die Ukraine 2007 war der Sargnagel für einen der größten Basare Europas. Ein Jahr später begannen die Abrissarbeiten am Stadion, die Händler wurden aus ihrem Paradies vertrieben. In der Marywilska-Straße fanden sie ein neues Zuhause.

Barbetreiber Artur hofft, dass die neue Nationalarena schon nach dem Eröffnungsspiel gegen Griechenland am Freitag Touristen in sein Stadtviertel anlockt. "Früher kamen sie nur, um einzukaufen, heute können sie zahlreiche Clubs, Cafés und Galerien in Praga aufsuchen."