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Methoden der Pergament-Forschung und die Arbeit der Restauratorin Patricia Engel mit Staub und Papier.
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Schafe zählen, und das nicht wegen Schlaflosigkeit, sondern aus wissenschaftlichen Gründen: ein etwas absurder Gedanke. Und doch ist er Realität und wird konkret an der Universität Cambridge ernsthaft verfolgt. Dort geht es tatsächlich um die Stammbäume von Rindern, Ziegen und Schafen aus dem Mittelalter. Nun mag mancher denken, dass der Wissenschaft nichts zu forschungsunwürdig erscheint, doch ist der Zweck der Arbeit durchaus einleuchtend. Man muss nur einige Zusammenhänge kennen, dann erscheint das Schafe-Zählen sogar genial und könnte einige überraschende Ergebnisse bringen. Und zwar dort, wo man sie gar nicht vermutet.
Aber langsam und der Reihe nach: Im Mittelalter wurde auf Pergament geschrieben. Und Pergament wurde aus Tierhäuten erzeugt, eben von Kälbern, Ziegen oder Schafen. "Tiere zu Kunst: Pergament als biologisches Archiv" nennt sich das Forschungsprojekt von Professor Matthew Collins von der Abteilung für Archäologie an der Universität Cambridge. Es handelt sich dabei um ein auf fünf Jahre angelegtes EU-Projekt, das mit 2,5 Millionen Euro finanziert ist.
Collins konzentriert sich auf Pergamente, die in europäischen Klöstern lagern und datiert sind. Da man von ihnen weiß, wann sie geschrieben wurden, kann der Wissenschafter da seine Tier-Stammbäume anknüpfen. Denn bis jeweils kurz davor muss das entsprechende Tier gelebt haben. Solche Pergamente sind die Grundlage, um mittels DNA-Analysen andere, undatierte Pergamente zeitlich einordnen und lokalisieren zu können.
Grasende Schriftträger
Denn mitunter wurden Handschriften verschenkt, geraubt, gestohlen oder gelangten über andere verschlungene Wege an Orte, wo sie heute aufbewahrt werden, aber gar nicht von dort stammen, was niemand weiß. Professor Collins sammelt Proben und kann so ganze Herden von vierbeinigen Tierhautspendern in Europa identifizieren und die Pergamente mit diesem Wissen zeitlich und räumlich einordnen.
Eine Sisyphus-Arbeit, möchte man meinen. Doch im Mittelalter gab es nicht so viele Schriftstücke wie heute. Das Schreiben war einer kleinen gebildeten Schicht vorbehalten; Dokumente wurden nahezu ausschließlich in Klöstern oder am Hof des Herrschers verwahrt, als Gerichtsunterlagen oder Aufzeichnungen. Die Rohstofflieferanten für die Schreibunterlagen grasten meist in der Umgebung, sodass sich von einer Zweiklassengesellschaft der mittelalterlichen Nutztiere sprechen lässt: Jene, deren Leben anonym in einem bäuerlichen Stall endete, und jene, die mit ihrem Fell über den eigenen Tod hinaus der Nachwelt als Schriftträger dienlich waren.
Eine, die Professor Collins zuliefert, ist die an der Donau-Universität Krems unterrichtende Restauratorin Patricia Engel. "Es ist genau vorgegeben, wie eine Probenahme gemacht werden muss, die nach Cambridge geschickt wird", sagt sie. "Über die DNA-Analysen kann Professor Collins die Tiere tatsächlich lokalisieren, kann ihr Alter, ihren Gesundheitszustand feststellen und so diese Herden peu à peu kennenlernen."

Nun geht es aber nicht nur um das Aufstellen von Tier-Stammbäumen. Gibt es einmal eine Art Zeittafel der Pergament-Lieferanten, wird es für Historiker und Philologen interessant: Sie können dann bisher zeitlich nicht genau einzuordnende Dokumente exakt datieren. Beispielsweise kann man auf diese Weise ziemlich präzise herausfinden, wann es Neuerungen in der Grammatik oder in der Schrift gab. Punktgenau lässt sich feststellen, wann eine Veränderung zum ersten Mal auftrat. Sogar Fälschungen lassen sich auf diese Weise enttarnen.
Fast mutet solche wissenschaftliche Arbeit detektivisch an. Patricia Engel arbeitet an einem zweiten Projekt, das ähnlich kriminalistisch aufgebaut ist. Diesmal ist der Staub ihr Medium. Der Staub der Jahrhunderte, der sich in Archiven und Bibliotheken auf Schriften und Bücher gelegt hat und in all der Zeit nicht weggewischt wurde. Denn das ist die Voraussetzung, dass sich der Staub ungehindert und kontinuierlich ablagern konnte. Staub setzt sich aus kristallinen Teilchen, Silikaten, zusammen, aus Ruß und Metallen im Erdreich, etwa Calcium und Magnesium. Hinzu kommen organische Bestandteile von Tieren und Pflanzen.
Man müsse sich auf die Aussagen der Hüter alter Schätze verlassen, was das Alter der untersuchten Gegenstände betreffe, wenn sie nicht datiert sind, sagt Restauratorin Engel. "Wir sind in die Klöster gegangen und haben mit den Bibliothekaren und Archivaren zusammen Originale gesucht, von denen sie gesagt haben: Das ist bei uns geschrieben worden, das ist seit dem 11. Jahrhundert nicht gereinigt worden, das hat noch nie unsere Klostermauern verlassen." Dann rückt Patricia Engel mit Wattestäbchen oder mit Spezialtüchern an, nach Vorgabe der analysierenden Chemiker, und hebt vorsichtig Proben vom Objekt ab, sucht nach bestimmten Strontium-Partikeln. Das Projekt wird von der Montanuniversität Leoben betrieben. Angesiedelt ist es beim Leiter des Lehrstuhls für Allgemeine und analytische Chemie, Professor Thomas Prohaska, wo die anorganischen Teilchen des Staubs analysiert werden.
Text und Material
Für die Untersuchungen ist es wichtig, zu wissen, woher der Staub kommt und ab wann er sich auf den Objekten gesammelt hat. Längerfristig soll eine Staub-Datenbank entstehen, mit deren Hilfe sich, ebenso wie mittels der Stammbäume mittelalterlicher Nutztiere, Dokumente datieren und lokalisieren lassen. Große Hoffnung setzt Engel bei ihrer Suche auf die unteren Enden diverser Pergamente, die umgebogen wurden, um darauf das Siegel zu fixieren. In dieser Knickstelle sammelt sich dann aufschlussreicher Staub. "Man hofft, dass dort der Staub ist, nach dem man sucht." Der muss nicht nur aus anorganischen Elementen bestehen, es können sich auch Pollenkörner darin befinden, oder Pflanzen, die nur in bestimmten Regionen vorkommen. "Aber auch Tiere", sagt Engel. "Man findet immer wieder eingequetschte Käfer, die man dann auch für eine Lokalisierung untersuchen kann."
Patricia Engel hat sich für ihre Staub-Forschung zwei österreichische Klöster vorgenommen: Kremsmünster mit Pergament-Urkunden aus dem 11. Jahrhundert und Zwettl mit Papieren aus dem 17. Jahrhundert. Aber nicht nur das Pergament, das Papier oder der Staub darauf liefern Informationen zur eigenen Identität, alle Elemente einer Handschrift oder eines Autographs geben Auskunft über das Wann und Wo. Also auch die Tinte, ihre Zusammensetzung, ihr Erscheinungsbild. So hat Engel in der Dombibliothek in Hildesheim entdeckt, dass in einem Text eine andere Tinte verwendet wurde als in einem anderen Teil des Buches. Engel forschte und fand heraus, dass ein Fragment, das in das Buch eingefügt worden war, Teil einer Handschrift ist, die heute in Wolfenbüttel verwahrt wird.
Es ist oft kriminalistisches Geschick und Gespür, das die Arbeit der Restauratoren reizvoll macht. Denn es lohnt mitunter nicht nur auf einen Text zu schauen, sondern auch auf das Material, auf dem er geschrieben ist. So hatte Patricia Engel kürzlich im Auftrag von Professor Heinz Miklas an der Uni Wien eine glagolitische, also altkirchenslawische Handschrift zu begutachten, die sich im Tiroler Landesmuseum Innsbruck befindet. "Da ist mir aufgefallen, dass auf diesem Pergamentfragment Löcher sind, die keine nachvollziehbare Funktion hatten."
Manche Löcher geben Linien an, wo das Lineal angelegt werden muss. Diese Löcher folgten aber keiner sichtbaren Ordnung und schienen ohne Funktion. Engel legte ein Blatt Papier über das Pergament und faltete es so, wie es die Faltung des Originals vorsah. Plötzlich lagen die Löcher übereinander - und ihr Sinn erklärte sich: Das gefaltete Stück Pergament war über die Einstichlöcher zusammengenäht und, als Schutz, am Gürtel oder Sattel angehängt getragen worden. Eine Art Amulett, das den heiligen Hieronymus als Schutzheiligen benennt.
Sollte ein Objekt irgendwann restauriert worden sein, ist es für die Restauratorin dennoch interessant, allerdings vom konservatorischen Standpunkt her: Wie wurde das Material gereinigt, wie wurde es dabei verändert oder gar verfälscht oder unkenntlich gemacht?

Alte Restaurierungsverfahren konnten das Material verändern. Im 18. Jahrhundert wurde damit begonnen: Blätter wurden damals gewaschen oder gebleicht. Man nannte das "Revitalisieren". Meist sollte das Ergebnis schön aussehen, weshalb Flecken zu verschwinden hatten. All diese Eingriffe müssen bei heutiger Prüfung berücksichtigt werden. Erst moderne Untersuchungsmethoden machen das sichtbar.
Weniger Chemikalien
Heute werden bei Untersuchungen an alten Objekten weniger Chemikalien und Flüssigkeiten eingesetzt als früher. Auch die Einwirkungszeiten auf das Material sind kürzer geworden. Seit dem Zweiten Weltkrieg werden sogar Dummies verwendet, um das Original nicht zu beschädigen. Sie kommen zum Einsatz, wenn man sich Forschungsfragen annähern oder neue Restaurierungsverfahren erproben will, bevor diese zur Anwendung am Original gelangen: In jedem Fall wird neues Material künstlich gealtert. "An dem kann man sich austoben", sagt Engel. Restaurierung gehöre zu den Geisteswissenschaften, sagt sie. Man arbeite aber auch mit den Methoden der Naturwissenschaften.
Patricia Engel, Initiatorin des European Research Centre for Book and Paper Conservation-Restoration, das kürzlich zehn Jahre alt wurde, ist für nächstes Jahr ein Coup gelungen: Die Internationale Papierhistorikertagung, die dieses Jahr im Juni in der Congress Library in Washington stattfand, wird nächstes Jahr an der Donauuniversität Krems abgehalten. Immer handelt es sich bei den Zusammenkünften um Papiergeschichte. Nächstes Jahr wird es um Papier von grafischen Blättern gehen. Aus Österreich wird für die nächstjährige Tagung der 1953 gegründeten Institution ein Beitrag zum Genius Loci, dem Barockmaler Kremser Schmidt, vorbereitet. Gemeinsam mit dem Kremser Stadtarchiv und dem Museum Krems sollen nun Informationen über das grafische Werk von Kremser Schmidt und das Papier, das dafür verwendet wurde, gesammelt werden. Dabei ist das große Geheimnis nicht, wie es hergestellt wurde, sondern woher es kam.
"Wir sind erst am Anfang, aber wir wollen die Geschichte der Rehberger Papiermühle nachzeichnen", sagt Engel über die seit dem 18. Jahrhundert bestehende Papierherstellung vor den Toren von Krems. Ihr Wunsch: "Dass wir einmal einen Bogen in der Hand haben, von dem wir ganz sicher wissen: Der ist aus der Rehberger Papiermühle. Das wäre das Schönste."
Stefan May, geboren 1961, lebt als Jurist, Journalist und Autor in Berlin und Wien.