)
31 aktive und frühere Staats- und Regierungschefs. | Merkel: "Bei strukturellen Unterschieden ansetzen." | Berlin. Am Abend des 9. November 1989 kam eine 35-jährige Ost-Berliner Physikerin mit Tausenden ihrer Landsleute zum ersten Mal nach 28 Jahren ungehindert in den freien Westteil der Stadt. Zwanzig Jahre später stand sie als (gesamt-)deutsche Bundeskanzlerin zusammen mit dem damaligen KPdSU-Generalsekretär Michael Gorbatschow und dem Solidarnosc-Chef Lech Walesa gemeinsam mit Tausenden Zeitzeugen und Bürgerrechtlern an der Bornholmer Brücke, genau jener Brücke, die an dem "Wahnsinnstag" vor zwei Jahrzehnten als Erste von Ost nach West überrannt wurde. | Gastkommentar der Wiener Historiker Maximilian Graf und Alexander Lass
Hinweis: Der Inhalt dieser Seite wurde vor 15 Jahren in der Wiener Zeitung veröffentlicht. Hier geht's zu unseren neuen Inhalten.
Mit einem Gedenkgottesdienst in der geschichts-trächtigen Gethsemanekirche begannen am Montagmorgen in Berlin die Feierlichkeiten zum Jahrestag, zu denen 31 aktive und ehemalige Staats- und Regierungschefs sowie etliche Nobelpreisträger und Bürgerrechtler anreisten. Unter ihnen die US-Außenministerin Hillary Clinton, die schon am Sonntag eintraf und den Fall der Mauer als "eines der wichtigsten Ereignisse des 20. Jahrhunderts" würdigte. Die Ereignisse vom 9. November 1989 hätten die Landschaft eines Kontinents verändert, erklärte sie. Der deutsche Außenminister Guido Westerwelle antwortete, Deutschland sei dem amerikanischen Volk heute noch dankbar für die damalige Hilfe. Die Mauer sei jedoch nicht gefallen, sondern von den Menschen im Osten "eingedrückt" worden.
Mit nachdenklichen Worten eröffnete die Kanzlerin den Festtag: "Die deutsche Einheit ist noch nicht vollendet", sagte sie im ARD-Morgenmagazin, und rief zu weiteren Bemühungen für die Angleichung der Lebensverhältnisse in Ost und West auf. Deshalb sei der Solidarpakt bis 2019 angelegt. Zudem "werden wir auch bei der Arbeitsmarktpolitik immer wieder auf die besonderen Gegebenheiten der neuen Bundesländer Rücksicht nehmen", fügte Merkel hinzu.
Auf die Frage, ob das Versprechen "blühender Landschaften" in den neuen Bundesländern durch den damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl erfüllt worden sei, antwortete Merkel: "Ja, natürlich haben wir viele blühende Landschaften." So sei in besonders belasteten Regionen wie Bitterfeld die Verschmutzung durch die Industrie verringert worden. Auch seien die damaligen Unterschiede in der durchschnittlichen Lebenserwartung heute fast ausgeglichen. Seit 1990 seien "Dinge geschehen, die haben wir überhaupt nicht für möglich gehalten."
Die Kanzlerin erklärte: "Wir müssen natürlich Investitionen in allen Bereichen Deutschlands hinbekommen." Dennoch blieben strukturelle Unterschiede zwischen Ost und West bestehen, und an denen "müssen wir ansetzen, wenn wir die Angleichung oder die Schaffung gleichwertiger Lebensverhältnisse hinbekommen wollen."
Domino und Bon Jovi
Bei allen Problemen glaube sie, dass bei den allermeisten Bundesbürgern das Glücksgefühl überwiege, dass es die Deutsche Einheit gebe. "Es bleibt der glückliche Moment der deutschen Geschichte", sagte die Bundeskanzlerin.
Beim Höhepunkt, dem "Fest der Freiheit" am Abend am Brandenburger Tor, wurden tausend überdimensionale Dominosteine, die in den letzten Wochen von Schülern angefertigt worden waren, entlang des ehemaligen Mauerverlaufs zu Fall gebracht. Auch das zwei Tage nach der Maueröffnung spontan für DDR-Bürger gespielte Konzert der Berliner Philharmoniker unter der Leitung von Daniel Barenboim wurde abends wiederholt. Und als inoffizielle Hymne des "Festes der Freiheit" stellt die amerikanische Rockband Bon Jovi vor dem Brandenburger Tor ihren neuesten Song "We Werent Born To Follow" ("Wir sind nicht zu Untertanen geboren") vor.
Der Streit über die Frage, wem letztendlich die Lorbeeren des damaligen "Wunders" gebühren, begleitet seit 20 Jahren die historische Aufarbeitung und träufelt auch Wermutstropfen in die Jubelfeiern. So warnte Wolfgang Thierse (SPD) davor, Helmut Kohl (CDU) als "Kanzler der Einheit" zu verklären, er habe mit dem Fall der Mauer "nichts zu tun".
Wissen: Der lange Weg zum Mauerfall
(mk) Als Michail Gorbatschow im März 1985 das Amt des KPdSU-Generalsekretärs antrat, befanden sich die kommunistischen Staaten in einer tiefen Systemkrise. Als Reaktion darauf startete er mit den Begriffen "Glasnost" und "Perestroika" Reformen, die autoritäre Strukturen in Frage stellten und Mitspracherechte zu erweitern suchten. Diese Reformen gaben der politischen Opposition in den Ostblock-Staaten erheblichen Auftrieb.
Die überalterte, erstarrte DDR-Führung verweigerte sich dieser neuen Reformlinie. Doch dadurch verlor sie auch die Rückendeckung der sozialistischen "Bruderländer". Die Führung reagierte mit noch mehr Repressions- und Überwachungsmaßnahmen. Gleichwohl gelang es dem SED-Staat nicht mehr, die Stimme der Opposition zum Schweigen zu bringen. Dies wurde etwa während der Luxemburg-Liebknecht-Demonstration am 17. Januar 1988 deutlich, als Mitglieder von Oppositionsgruppen sich unter Verweis auf Rosa Luxemburgs bekanntes Diktum "Freiheit ist immer die Freiheit des Andersdenkenden" mit systemkritischen Transparenten und Plakaten an der offiziellen SED-Kundgebung beteiligten.
Aus Enttäuschung entschlossen sich immer mehr Menschen, die DDR zu verlassen. Nach dem Abbau der Sperranlagen an der österreichisch-ungarischen Grenze im Frühsommer 1989 reisten in den Urlaubsmonaten zahlreiche DDR-Bürgern nach Ungarn, Polen und in die CSSR, um von dort in die Bundesrepublik zu gelangen. Viele suchten Zuflucht in den westdeutschen Botschaften in Ost-Berlin, Prag, Warschau und Budapest. Nachdem Ungarn Anfang September 1989 seine Westgrenze aus humanitären Gründen für alle DDR-Bürger geöffnet hatte, gelang es Ende September auf diplomatischem Wege und unter erheblichem Druck Moskaus schließlich auch, den DDR-Flüchtlingen in den bundesdeutschen Botschaften in Prag und Warschau die Ausreise in die Bundesrepublik zu ermöglichen.
Vor allem die Leipziger Montagsdemonstrationen, die seit Anfang September 1989 wöchentlich im Anschluss an die Friedensgebete in der Nikolaikirche stattfanden, standen im Zentrum des öffentlichen Protestes gegen das SED-Regime. Bald sprang die Protestwelle auch auf andere Städte über.
Auch während der Feierlichkeiten zum 40. Jahrestag der DDR-Staatsgründung am 7. Oktober kam es vielerorts zu Demonstrationen, gegen die die Sicherheitsorgane mit massiver Gewalt vorgingen. Rund 3500 Menschen wurden verhaftet, davon mehr als 1000 allein in Berlin. Angesichts des großen Zulaufs, den die Protestbewegung in der gesamten DDR erhielt, war spätestens seit den Leipziger Montagsdemonstrationen vom 9. und 16. Oktober 1989 mit mehr als 70.000 bzw. 100.000 Menschen abzusehen, dass der Niedergang des SED-Regimes nicht mehr aufzuhalten war.
Am 18. Oktober entband das SED-Zentralkomitee Erich Honecker "auf eigenen Wunsch" von allen seinen Ämtern. Am 4. November versammelten sich mehr als 500.000 Menschen auf dem Berliner Alexanderplatz zur größten Massendemonstration in der Geschichte der DDR. Am 6. November protestierten rund 300.000 Leipziger Montagsdemonstranten gegen den Entwurf eines neuen Reisegesetzes, das jedem DDR-Bürger auf Antrag für maximal 30 Tage pro Jahr Auslandsreisen gestattete.
Die Verlesung einer Erklärung zu einer neuen Reiseverordnung, der zufolge künftig ohne Angabe von Gründen kurzfristig Genehmigungen für Reisen ins Ausland erteilt würden, durch den Sprecher des Zentralkomitees Günter Schabowski auf einer Pressekonferenz am Abend des 9. November setzte eine unvorhergesehene Kettenreaktion in Gang. Auf Nachfrage, wann die Verordnung in Kraft trete, antwortete Schabowski, dass nach seiner Kenntnis die Regelung "sofort, unverzüglich" gelte. Kurz nach 23 Uhr wurde zunächst der Übergang an der Bornholmer Straße geöffnet, bis Mitternacht waren alle innerstädtischen Grenzübergangsstellen offen. In ganz Berlin versammelten sich Menschen aus Ost und West zu Freudenfeiern.