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Deutsche Grüne bald Volkspartei?

Von Gerhard Lechner

Europaarchiv

Mitgliedszahlen auf Rekordniveau. | "Interessenten rennen uns Tür ein." | Strohfeuer wie bei der FDP oder Langzeittrend? | Berlin. Was ist dran an diesen Grünen? "So grün wie wir", titelte die "Zeit" bereits im November vergangenen Jahres angesichts Staunen erregender Umfragewerte der deutschen Ökotruppe. Diese, so die Zeitung, sei auf dem Weg "von der Single-Issue- zur Catch-all-Partei" - auf Deutsch: von der Milieu- zur Volkspartei. | Stresstest für 'Stuttgart 21' | Winfried Kretschmann - Der bessere Bürgerliche | Grüne in Österreich nicht offensiv genug


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Das war noch, bevor der GAU von Fukushima das grüne Leibthema Atom erneut auf die Agenda setzte - und den deutschen Grünen bei den Landtagswahlen in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz vergangenen Sonntag hohe Zugewinne brachte. In Stuttgart wurde das lange Undenkbare Wirklichkeit: Mit Winfried Kretschmann wird erstmals ein Vertreter der Ökopartei ein deutsches Bundesland regieren, das tiefbürgerliche Baden-Württemberg. Die schon bekannte politische Farbkombination heißt dort dann nicht mehr Rot-Grün, sondern Grün-Rot.

Die Partei surft im Moment auf der Popularitätswelle: "Uns rennen die Interessierten buchstäblich die Tür ein. Offenbar entwickeln sich die Grünen zur Gegenbewegung zum allgemeinen Parteienverdruss", mutmaßt Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke. Am Mittwochabend hat die Partei mit 51.822 Mitgliedern ihren bisherigen Rekord aus dem Jahr 1998 übertroffen. Alleine in den vergangenen zwei Monaten sind rund 2000 Menschen eingetreten.

Meilenstein und Zäsur

Und 1998 gilt für die deutschen Grünen immer noch als Meilenstein: Damals hatten sie den Sprung in die Regierung geschafft, ihr Frontmann Joschka Fischer wurde Vizekanzler und Außenminister. Der Regierungseintritt stellte aber auch eine Zäsur in der Erfolgskurve der Partei dar: Die Debatten im Zuge des Kosovo-Krieges der Nato, der Umstand, dass mit Fischer ausgerechnet ein Grüner als deutscher Außenminister den ersten Krieg der Bundeswehr zu verantworten hatte, brachte der Partei eine echte Zerreißprobe. Alte Konflikte zwischen ideologieverliebten "Fundis" und pragmatischen "Realos", die bis Mitte der 90er Jahre hinein das öffentliche Erscheinungsbild der Partei prägten, brachen wieder auf - und viele Wähler weg: Um die Jahrtausendwende und danach flog die Regierungspartei aus mehreren deutschen Landtagen.

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Die Wende kam mit der Bundestagswahl 2002, als Fischer mit einem fulminanten Wahlkampf und einem Plus von 1,9 Prozent dem damaligen SPD-Kanzler Gerhard Schröder gegen Unionskandidat Edmund Stoiber den Kanzlersessel rettete. Seitdem gings - von gelegentlichen kleineren Rückschlägen wie der Bundestagswahl 2005 abgesehen - langsam, aber stetig bergauf.

Dabei schien es schon, als würde sich der Zeitgeist in Deutschland gegen die Grünen wenden: Die Wirtschaftskrise schien klassische grüne Themen wie Ökologie eher nach hinten zu verdrängen; Bücher, die die sogenannte "Political Correctness" verspotteten - der sich ja besonders die linke Ökopartei verschrieben hatte -, fanden am deutschen Buchmarkt zunehmend Absatz.

Nur Protestphänomen?

In dem Wirbel, den das viel diskutierte Buch von Thilo Sarrazin auslöste, lag auch Erleichterung über das Brechen von Tabus, die vor allem mit den Grünen assoziiert wurden und werden.

Die Frage, ob der derzeitige grüne Höhenflug von Dauer ist oder nur eine Art Protestphänomen, muss noch offen bleiben. Als Menetekel wirkt das Schicksal der deutschen FDP, die bereits seit den Neunziger Jahren eine rasante politische Achterbahnfahrt vollführt. Die erstaunlich guten Wahlergebnisse der Liberalen bis zu ihrem Regierungseintritt 2009 gaben Zeitungen bereits Anlass zu Reflexionen über das Phänomen einer Renaissance des Liberalismus in Deutschland - heute würde die Partei laut Umfragen nicht mehr den Einzug in den Bundestag schaffen.

Solcher Sorgen sind die Grünen derzeit ledig: Neben dem Sieg in Baden-Württemberg, der mit dem Widerstand gegen das Bahnprojekt "Stuttgart 21" ja auch landespolitische Gründe hatte, ging fast unter, dass die rheinland-pfälzische Landesgruppe aus dem Stand auf 15,4 Prozent kam. Die Partei war zuvor nicht im Landtag vertreten - und kann sich jetzt den Koalitionspartner aussuchen: Spitzenkandidatin Eveline Lemke erklärte, sowohl mit der SPD als auch mit der CDU verhandeln zu wollen.