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Werner Weidenfeld, einer der führenden deutschen Politikwissenschafter, erklärt, wie Deutschland seine europäische Vormachtstellung nutzen sollte. Er kritisiert die außenpolitische Schwäche der EU und rechnet damit, dass Angela Merkel 2017 nicht mehr Kanzlerin sein wird.
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"Wiener Zeitung:" "Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht", schrieb Heinrich Heine. Er beschrieb eine Sehnsucht aus der Ferne, heute wird das Zitat gerne gegen Deutschland gemünzt. Also: Wer fühlt sich heute von Deutschland um den Schlaf gebracht?Werner Weidenfeld: In Deutschland selbst praktisch niemand, aber natürlich sehen die Regierungen in Griechenland, Zypern und mit Abstrichen Spanien die Maßnahmen Deutschlands zur Stabilisierung des Euro skeptisch. Zudem gilt ihr Unbehagen dem Einfluss Deutschlands auf Reformentscheidungen in den jeweiligen Staaten. Andere Kritiker sehe ich nicht. Denn jenseits aller medialen Krisenszenarien ist die Lage relativ undramatisch.
Inwiefern undramatisch - angesichts der Situation in den Euro-Krisenländern?
Allmählich stellen sich die Ergebnisse der Reformen ein, auf welche die Deutschen eingewirkt haben. Für viele Reformschritte braucht man Zeit, manche Maßnahmen wie die Euro-Rettungsschirme waren nur als Zeitgewinn konzipiert. Wichtig ist, dass die Länder einen eigenen Beitrag zu ihrer wirtschaftlichen Gesundung leisten.
Sie sehen die Euro-Krise vergleichsweise entspannt. Als Deutschlands Finanzminister Wolfgang Schäuble vor drei Wochen anklingen ließ, Griechenland benötige ein drittes Hilfspaket, gingen die Wogen hoch.
Diese Aussage war der einzige Fehler im Timing der Regierung. Schäuble ist ein sehr erfahrener Politiker, der genau wissen müsste, dass das Thema derzeit niemandem hilft. Ende 2014 steht eine neue Entscheidung an - warum das heute anstimmen?
Deutschland agiert heute aus einer Position der Stärke und nimmt die unbestrittene Führungsrolle in der EU ein - noch vor zehn Jahren galt das Land als "kranker Mann". Inwieweit hat sich das Land auf der europäischen Bühne verändert?
Die Führungsrolle hat es bereits früher gegeben wie bei den Römischen Verträgen 1957 zur Gründung von EWG und EURATOM oder beim Vertrag von Maastricht 1992 zur Gründung der EU samt gemeinsamer Außen- und Sicherheitspolitik und Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres. Ganz zu schweigen von der Einführung des Euro. Das ging so weit, dass bei Vorbereitungssitzungen zu EU-Gipfeln die Mitgliedsländer auf deutsch-französische Initiativen gewartet haben. Blieben diese aus, wie vor Nizza 2000, sagten Teilnehmer salopp: "Wo ist denn die deutsch-französische Unterlage, über die wir beraten sollen. Wenn es die nicht gibt, können wir gleich wieder nach Hause fahren."
Drei Kanzler amtierten in den vergangenen 30 Jahren: Helmut Kohl (1982 bis 1998), Gerhard Schröder (1998 bis 2005) und Angela Merkel (seit 2005). Wer von ihnen war der beste Regierungschef in Sachen Europa?
Kohl. Er besprach europapolitische Initiativen im Vorfeld der Treffen mit dem damaligen französischen Präsidenten François Mitterrand (amtierte von 1981 bis 1995, Anm.), überließ aber teilweise Mitterrand Glanz und öffentliches Ansehen, die Vorschläge zu präsentieren, beispielsweise zum europäischen Binnenmarkt.
Damals waren EG bzw. EU wesentlich kleiner und hatten ein anderes Selbstverständnis. Selbst wenn sich Angela Merkel und François Hollande heute besser akkordieren würden: Funktionierte das Prinzip in einer Union mit 28 Mitgliedern?
Ja, es ist nicht mehr die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft mit sechs Nationen, die Franzosen alleine reichen nicht mehr aus. Daher hat Angela Merkel etwa intensiv mit Mario Monti kooperiert, als er italienischer Ministerpräsident war. Merkels Ansehen in Deutschland geht auf ihr europapolitisches Engagement und ihr großes Arbeitspensum zurück.
Ist Merkel die erste Kanzlerin, die ihre Beliebtheit und ihren politischen Stellenwert Europathemen und nicht innenpolitischen Initiativen verdankt?
Nein. Bereits in den 1950ern wurde heftig über den EU-Vorgänger, die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl, gestritten; Kritiker befürchteten dadurch die ewige Teilung Deutschlands. Auch der deutsch-französische Freundschaftsvertrag war nicht unumstritten, weil er als Absage an Amerika galt. Im jetzigen Wahlkampf gibt es keine inhaltliche Grundsatzdebatte über Europa, SPD und Grüne haben im Bundestag ja alle wichtigen Entscheidungen mitgetragen. In Deutschland kann man keinen anti-europäischen Wahlkampf mit Aussicht auf Erfolg führen. Oskar Lafontaine hat das probiert, als er noch SPD-Vorsitzender war. Keine zwei Wochen hielt die Kampagne.
Die politischen Eliten und die Mehrheit der Bevölkerung sind pro-europäisch. Was aber ist Deutschland für Europa? George Soros etwa sprach vom "sanften Hegemon".
Diese Terminologie erklärt die Lage in keiner Weise. Deutschland hat eine Mitverantwortung, muss mit angemessener Sensibilität und Balance Führungsleistungen erbringen. Es darf nicht auftrumpfen, das weckt nur Skepsis bei den anderen Ländern - genauso wie mangelnde Führung und Abtauchen. Da Deutschland das wirtschaftlich stärkste Land ist, besteht eine Verantwortung für den Kontinent. Europa ist so eng verwoben - Griechenland hat weniger Einwohner als Bayern und die Wirtschaftskraft Hessens, Zypern hat weniger Einwohner als München: Wären wir nicht so eng verwoben, wären die Probleme in jenen Ländern weitgehend irrelevant. Doch mittlerweile kann sich kein Land mehr leisten zu sagen: "Die Probleme der anderen gehen uns nichts an."
Auch, weil die Unternehmen aus anderen EU-Ländern massiv in den Krisenländern investiert sind.

Wäre Griechenland untergegangen, wären große Firmen wie die Deutsche Bank unter den Hauptverlierern gewesen. Diese sensible Mitverantwortung muss natürlich auch in der Wirtschaft wahrgenommen werden.
Deutschland und Frankreich trieben stets die europäische Integration voran. Doch der Argwohn der Regierung Merkel gegenüber der EU-Kommission hat zugenommen, zum Beispiel, als diese im Juni Frankreich zwei weitere Jahre gab, um Defizitziele zu erreichen. Auf der anderen Seite schließt Deutschland vermehrt bilaterale Abkommen ab, zuletzt mit einem Kredit über 800 Millionen Euro an die spanische Entwicklungsbank. Wendet sich Deutschland von der europäischen Integration ab?
Zumindest entwickelt sich langsam eine Debatte im Land, welche Kompetenzen in Richtung Brüssel verlagert werden sollen. Die europäische Integration hat eine lange Tradition, diese beiden Pole Supranationalismus und Gouvernementalisierung zu kombinieren. Sie war von Anfang an keine Kommissions-orientierte Integration oder eine auf nationale Regierung fokussierte Integration. Sonst wäre viel früher die Legitimationsfrage der EU aufgekommen, die bei allen Machttransfers auf die europäische Ebene nicht ausgebrochen ist. Denn die Bürger sehen, wenn es ernst wird, die Bundeskanzlerin auftreten und mitgestalten - nicht nur den abstrakten Brüsseler Apparat.
Welcher der beiden Pole wird in Zukunft stärker: Supranationalismus oder Gouvernementalisierung?
Ich erwarte in den kommenden fünf Jahren Reformen, welche die supranationalen Elemente verstärken, beispielsweise in der Diskussion um einen direkt zu wählenden Kommissionspräsidenten. Bei den Wahlen zum EU-Parlament könnten die Parteifamilien europaweite Spitzenkandidaten aufstellen, die siegreiche Fraktion bzw. Person erhielte den Posten des Präsidenten der Kommission oder des Präsidenten des Europäischen Rates.
Und wie geht es inhaltlich weiter, wenn die Währungskrise nicht mehr alles überschattet?
Die große Schwachstelle Außen- und Sicherheitspolitik muss behoben werden. Schließlich leben wir in einer multipolaren Welt mit den Mächten USA, China, Japan, Brasilien, Indien, Russland und Europa. Dass eine langfristige Strategie fehlt, sehen wir in Syrien, Ägypten, Tunesien, Libyen und Iran. Passiert in dieser Region etwas, hört man von der deutschen Außenpolitik immer, man habe nichts gewusst. Bei Syrien trifft die Kritik aber genauso auf die USA zu.
Henry Kissinger hat schon vor Jahrzehnten gefragt, wen er anrufen soll, wenn er mit Europa telefonieren möchte. Bei der jetzigen EU-Außenbeauftragen Catherine Ashton scheinen sich aber nicht viele zu melden.
Ich habe Kissinger gesagt, er möge mir für den Ernstfall eine Nummer in den USA mitteilen. Soll ich den Präsidenten, den Vizepräsidenten, den Außenminister, den Verteidigungsminister oder den Sicherheitsberater des Präsidenten kontaktieren? Sie alle können eine unterschiedliche Meinung haben. In der EU wird sich die Führungskonstruktion nur unter Druck weiterentwickeln. So war es auch in der Vergangenheit, von der Organisation des Euro bis zum Fiskalpakt.
Die Themen, die uns bewegen, lagen vor 20 Jahren schon auf dem Tisch. Wie groß muss der Druck sein, damit die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik vorangetrieben wird?
Stellen wir uns vor, es kommt zu einem militärischen Eingreifen in Syrien, das wiederum zu einer Explosion im Pulverfass der gesamten Region führt. Auf einmal fällt in Europa der Strom aus, weil wir nicht die notwendigen Energieimporte tätigen können. Sofort käme es zu einer anderen Welt, und zu neuen Antworten, welche die EU finden müsste.
Die EU funktionierte bisher ja auch, weil Rheinischer Kapitalismus, französischer Staatsinterventionismus und britischer Freihandelswunsch ohne vertiefte politische Integration koexistieren konnten. Bleibt dieses Modell aufrecht in Anbetracht der jetzigen Krise?
Es wird zu differenzierter Integration kommen, wie bereits in der Vergangenheit praktiziert, zum Beispiel in der inneren Sicherheit mit dem Schengener Abkommen zur Abschaffung der Grenzkontrollen. Auch beim Euro machen nicht alle mit. Und das Scheidungsrecht gilt nicht in Spanien und Italien. Damit steigen auch die Anforderungen innerhalb der Union. Europa braucht daher mehr strategische Eliten, die untereinander verlässlich kommunizieren; sie gab es in den 1950ern, als die Nato in Europa aufgebaut wurde. Das ist weitgehend verfallen.
Die Differenzierung bedeutet eine enorme Erklärungsleistung gegenüber der Öffentlichkeit.
Das ist das nächste Defizit der EU. Mehr als 70 Prozent der Europäer sagen bereits heute, dass sie die Funktionsweise der Union nicht verstehen. Politik, Medien und Experten sind also gefordert. Die Politiker laufen derzeit von Sitzung zu Sitzung, der Anteil an Erklärungsleistung ist aber sehr gering. Dabei sind die Bürger nicht politikverdrossen, es gibt einen Hunger nach Erklärung.
Unter Hunger im eigentlichen Sinn leiden die meisten Deutschen zwar nicht, aber ein Fünftel arbeitet im Niedriglohnsektor, viele beklagen enorme Kosten für Mieten.Das sind wahlkampforientierte Schlagworte. Ich halte es für einen Fehler, das gesamte politische, soziale und kulturelle Leben auf die Frage zu reduzieren, ob Sie am Monatsende ein paar Euro mehr oder weniger in der Geldbörse haben. An einem schönen Abend sind rund 100.000 Plätze in den Biergärten Münchens besetzt. Diese Leute sollen alle unglücklich sein?
Nein, aber München bildet die Spitze in Deutschland, in Krisenregionen sieht man die Lage vielleicht anders.
Ich bin sehr zurückhaltend in dieser Frage, halte sie für eine Verwebung einer argumentativen Verarmung der Politik mit einer argumentativen Verarmung der Medien. Weil die Politik nur noch jene Themen anspricht, werden diese auch von den Medien angesprochen.
Die Parteien testen ihre Wahlkampfslogans aber vorab, also werden sie wohl einen Bezug zu den Problemen der Menschen haben.
Sie testen diese bei Instituten, die wiederum das alte Bild testen. Damit erhalten sie die altbekannten Ergebnisse.
Bildet Angela Merkel das Lebensgefühl der Deutschen besser ab und liegt deshalb in Umfragen rund 15 Prozentpunkte vor der SPD?
Die Kanzlerin profitiert insbesondere von ehemaligen FDP-Wählern, die zur Union gewechselt sind. Davor fuhr Merkel in jedem ihrer Wahlkämpfe als Spitzenkandidatin das schlechteste Ergebnis in der Geschichte ihrer Partei ein - 2005 waren es 35 Prozent, vier Jahre später knapp 34 Prozent. Aber sie war machttechnisch geschickt genug, trotzdem jedes Mal Kanzlerin zu werden.
Die SPD rühmt sich, mit der Agenda 2010 den Grundstein zu Deutschlands Wiederaufstieg gelegt zu haben. Was waren die drei größten politischen Verdienste Angela Merkels, seit sie Kanzlerin ist?
Die schmerzhaften Einschnitte hat tatsächlich Gerhard Schröder gesetzt, bei Merkel liegt die Begleitwattierung auf europäischer Ebene. Ihr dortiger finanzpolitischer Kurs ist sicher prägend. Der zweite große Einschnitt betrifft die Energiewende. Der Rest ist gesellschaftliche Befriedung. Anstatt sich großen Kontroversen auszusetzen, schwächt Merkel die Opposition, indem sie deren Themen aufgreift. In einer hochpluralen Gesellschaft ist das auch eine Leistung.
Aber auf Kosten des inhaltlichen Profils der CDU.
Dieses Problem wird den Nachfolger von Merkel sehr beschäftigen. Wer das sein wird, ist völlig unklar; eine Talentförderin ist die Kanzlerin ja nicht.
Merkel amtiert bereits seit acht Jahren. Helmut Kohl hielt sich 16 Jahre an der Spitze, bis die Wähler seiner überdrüssig waren. Wann nutzt sich Merkels Politstil ab?
Es ist eine Sensation, dass Merkel erfolgversprechend für eine dritte Legislaturperiode zur Wahl antritt. In Deutschland gibt es nur zwei historische Ausnahmesituationen, die eine dritte Wiederwahl ermöglichten: Konrad Adenauer in der Gründungs- und Aufbauphase der Republik und Helmut Kohl als Kanzler der Einheit.
Woran liegt das?
Üblicherweise ruft ein Kandidat im Wahlkampf nach einem neuen Aufbruch. Nach vier Jahren im Amt sagt er, der große Aufbruch sei erfolgreich auf den Weg gebracht, vier Jahre seien aber zu wenig für die Umsetzung. Nach der Wiederwahl hält diese Argumentation nicht, denn er kann nicht behaupten, die Zeit wäre zu kurz gewesen. Es ist erstaunlich, dass die Opposition Merkels Verschleiß nicht thematisieren kann. Ihr spezifischer Führungsstil - freundlich präsidentiell - entzieht sich offenbar frühen Verschleißerscheinungen. Der Blick über die nächste Wahl hinaus verlässt in immer kurzatmiger werdenden Abläufen die solide wissenschaftliche Grundlage - aber dennoch ist anzunehmen: Angela Merkel wird vor 2017 eine andere politische Weichenstellung vornehmen und nicht selbst erneut zur Wahl antreten.
Alexander Dworzak, geboren 1980 in Wien, ist Redakteur im Ressort "Europa@Welt der "Wiener Zeitung". Zur Zeit ist er in Deutschland unterwegs, um die Wahlen zu beobachten.
Werner Weidenfeld, geboren 1947, zählt zu den einflussreichsten deutschen Politikwissenschaftern. Der Leiter des Centrums für angewandte Politikforschung an der Ludwig-Maximillians-Universität München berät mit seinem Institut Politiker, darunter führende Vertreter in der EU. Weidenfeld gehörte auch zum Beraterkreis von Deutschlands Ex-Kanzler Helmut Kohl.
Ausgewählte Publikationen:
Rivalität der Partner. Die Zukunft der transatlantischen Beziehungen – die Chance eines Neubeginns. Bertelsmann-Stiftung, Gütersloh 2005.
Europa leicht gemacht: Antworten für junge Europäer. Hanser, München 2008.
Die Europäische Union. W. Fink UTB, Paderborn 2010 (mit Edmund Ratka).