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Deutschland: Linke feiern, Grüne wollen opponieren

Von Holger Mehlig und Claudia Kemmer / AP / WZ Online

Europaarchiv

"Das ist ein großer Tag für die Linke", rief Oskar Lafontaine im Wahlzelt der Linken am Prenzlauer Berg. Auch die Grünen feierten ihr Ergebnis von rund 10,5 Prozent. Spitzenkandidat Jürgen Trittin kündigte bei der Feier im Berliner Postbahnhof "knallharte Opposition" an.


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Dass er die Situation genießt, ist ihm deutlich anzusehen. Oskar Lafontaine strahlt über die geröteten Wangen, als er am Sonntagabend zusammen mit Gregor Gysi und Lothar Bisky vor die rund 600 Anhänger in einem völlig überfüllten Zelt im Berliner Stadtteil Prenzlauer Berg tritt. "Das ist ein großer Tag für die Linke", ruft er. Nun sei sie in Deutschland endgültig etabliert. Seine ehemalige Partei SPD erwähnt er mit keinem Wort. Ihr historischer Tiefststand dürfte für ihn jedoch das Sahnehäubchen sein.

"Zehn plus x" hieß das Ziel der Linken, nach 8,7 Prozent vor vier Jahren. Als die erste Prognose endlich auf einer Leinwand aufleuchtet und die Linke bei 13 Prozent sieht, kennt der Jubel keine Grenzen. "Das ist sensationell. Das ist ein Riesenerfolg für die Linke", ruft Bundesgeschäftsführer Dietmar Bartsch. "Die Erfolgsgeschichte der Linken hat eine erste Krönung erfahren. Heute wird gefeiert."

Die Stimmung erreicht ihren Siedepunkt, als knapp eine Stunde nach den ersten Prognosen die Spitzenkandidaten Lafontaine und Gysi sowie Parteichef Lothar Bisky auf die Bühne treten. Rhythmisches Klatschen und Rufe lassen sie zunächst kaum zu Wort kommen und unterbrechen sie immer wieder.

Lafontaine ist sichtlich glücklich. Man habe ein Ergebnis erzielt, von dem man vor ein paar Jahren nur geträumt habe, sagt er. Dann blickt er in die Zukunft. Angesichts der Wirtschafts- und Finanzkrise brauche man eine neue Wirtschafts- und Finanzordnung, fordert er, wieder staatsmännisch dreinschauend.

Die im Zelt versammelten Anhänger wollen an diesem Abend jedoch lieber feiern. "Wir haben die ganze Gesellschaft durcheinandergebracht und das wurde auch höchste Zeit", ruft Gysi und wird bejubelt. "Wir haben heute ein historisches Ereignis erlebt." Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik habe es eine Partei links der SPD mit mehr als zehn Prozent in den Bundestag geschafft. Die SPD brauche jetzt eine Rebellion - "das ist ihre einzige Chance".

Auch Bisky ist zufrieden: "Wir haben die Schallmauer durchbrochen, wir sind zweistellig", ruft er. Man werde die soziale Partei im Bundestag sein, gegen Hartz IV und Auslandseinsätze der Bundeswehr kämpfen.

Ganz ungetrübt ist die Freude bei den Linken jedoch nicht. Zwar wurde das Wahlziel "10 plus X" erreicht, sogar deutlicher als von manchem erwartet. Aber eine schwarz-gelbe Koalition ist wahrscheinlich - und genau das wollten die Linken eigentlich unbedingt verhindern.

So räumt Bartsch auch ein, nicht froh über das Ergebnis von Union und FDP zu sein. Er gibt sich aber kämpferisch: "Schwarz-gelb kann sich auf uns verlassen, dass wir diese Politik nicht zulassen. Wir werden Widerstand leisten, wenn Sozialabbau angesagt ist."

Grüne nur am fünften Platz

Von ihren drei Wahlzielen haben die Grünen nur eines erreicht: Sie ziehen mit einem zweistelligen Ergebnis in den nächsten deutschen Bundestag ein. Aber weder ist es ihnen gelungen, dritte Kraft zu werden, noch Schwarz-Gelb zu verhindern. Die Grünen feierten ihr Ergebnis von rund 10,5 Prozent - das bisher beste bei einer Bundestagswahl - dennoch überschwänglich.

Hunderte Anhänger in der Berliner Szene-Location zusammengekommen beklatschten die Spitzenkandidaten Renate Künast und Trittin begeistert. Mit rund 10,5 Prozent nach ersten Hochrechnungen haben sich die Grünen gegenüber 2005 um mehr als zwei Prozentpunkte gesteigert. Damals erzielten sie 8,1 Prozent und zogen als kleinste Oppositionspartei in den Bundestag ein.

Ein Viertel mehr Abgeordnete werde die neue Fraktion voraussichtlich umfassen, rechnete Parteichefin Claudia Roth vor. Trotzdem bleiben die Grünen kleinste Oppositionsfraktion im Bundestag. Parteichef Cem Özdemir sah darin nicht unbedingt einen Nachteil: Die Fraktion werde sich als ein "Think Tank der Gesellschaft und des Landes" verstehen. Eine "kluge und kämpferische Opposition" kündigte Roth an.

Das Ergebnis der Europawahl vom Juni hatte allerdings die Hoffnung auf mehr bei der Bundestagswahl am Sonntag genährt. Bei der Europawahl waren die Grünen auf 12,1 Prozent gekommen und hatten damit ihr bestes Ergebnis auf Bundesebene erzielt. Spätestens da waren die Blütenträume gereift, dass die Grünen dritte Kraft vor FDP und Linken werden könnten. Dass es dafür nicht gereicht hat, redete Roth damit schön, dass die Grünen "jede Stimme eigenständig erkämpft" und "von niemandem etwas geschenkt bekommen haben".

Von wem auch, mag man da fragen. Der ehemalige Koalitionspartner und Wunschpartner für die Zukunft, SPD, ist bei der Wahl buchstäblich ausgeblutet und hat sein schlechtestes Ergebnis in der Geschichte der Bundesrepublik eingefahren. Als die erste Prognose für die SPD gezeigt wurde, ging ein schockiertes Raunen durch den Postbahnhof. Künftig werden die Grünen wohl ihre Scheu vor Schwarz-Grün oder Jamaika ablegen müssen.

Als bittere Pille empfanden es die Grünen, dass es ihnen nicht gelungen ist, Schwarz-Gelb zu verhindern. "Das ist bitter, aber das ist auch eine Kampfansage", mahnte Roth. Anders als die SPD hätten die Grünen nie gesagt: "Opposition ist Mist", sagte Roth unter Verweis auf SPD-Chef Franz Müntefering. Künast verkündete das erste Oppositionsziel in der neuen Legislatur: "Wir nehmen das als Arbeitsauftrag, ab sofort dafür zu kämpfen, dass es keine Laufzeitverlängerung für Atomkraftwerke gibt." Gegen die "Schwarz-Gelben, die Radioaktiven" werde man "knallharte Opposition" machen, kündigte Trittin an. Ganz oben auf der Agenda steht laut Künast auch die Schaffung neuer Jobs im Bereich erneuerbare Energien.

Eine Überraschung ist das ambivalente Ergebnis für die Grünen nicht. Schon in den Umfragen der vergangenen Wochen und Monate hatte sich angedeutet, dass die Grünen ihr bestes Ergebnis bei einer Bundestagswahl erzielen, dies aber gleichzeitig nicht in Regierungsbeteiligung ummünzen werden könnten. Einzige realistische Chance wäre eine Ampelkoalition mit SPD und FDP gewesen. Die FDP hatte sich aber definitiv auf Schwarz-Gelb festgelegt.

Özdemir richtete seinen Blick daher am Wahlabend schon auf 2013: "Dann muss Grün in die Exekutive". Bis dahin können sich die Grünen auch an den Landtagswahlen aufrichten. In Schleswig-Holstein wurden die Grünen voraussichtlich zweistellig, in Brandenburg schafften sie entgegen den Vorhersagen den Einzug in den Landtag. Damit haben man "den Durchbruch in Ostdeutschland geschafft", jubelte Roth.