Der "Lies"-Verein soll 140 junge Kämpfer für den IS rekrutiert haben. In zehn Bundesländern fanden Razzien statt.
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Berlin. Ein Stand, ein paar Plakate mit der Aufschrift "Lies!" und einige Männer, die den Koran verteilen - damit ist in Deutschland nun Schluss. Innenminister Thomas de Maizière (CDU) hat am Dienstag die Vereinigung "Die wahre Religion" verbieten lassen, bekannt auch unter dem Namen "Lies!-Stiftung". Denn hinter der sich betont harmlos gebenden Koran-Verteil-Aktion steckt der salafistische Prediger Ibrahim Abou-Nagie. Er teilt Menschen in "Muslime" und "Kuffar", Ungläubige. Seine Vereinigung unterstützt laut dem deutschen Innenministerium den selbsternannten "Islamischen Staat" (IS). Das Austeilen des Korans wurde demnach dazu genutzt, Jugendliche für extremistisches Gedankengut zu gewinnen: Minister de Maizière sprach in der Pressekonferenz am Dienstag von 140 jungen Männern und Frauen aus Deutschland, die Kontakt zur nun verbotenen Organisation hatten und in den Irak und nach Syrien gereist sind, um sich dem Kampf terroristischer Gruppierungen anzuschließen. Insgesamt zählt das Bundesamt für Verfassungsschutz 870 Personen, die bis Ende Oktober in IS-Kriegsgebiete fuhren.
Verein auch in Österreich aktiv
Laut dem "Zentrum zur Erforschung von Radikalisierung" am King’s College London beeinflussen Videos, Facebook und Twitter vergleichsweise wenige Menschen zur Gänze. Direktor Peter Neumann verweist darauf, dass reale soziale Netzwerke eine weit wichtigere Rolle bei der Radikalisierung spielen.
"Wir wollen nicht, dass Extremismus aus Deutschland exportiert wird", sagte de Maizière. "Deutschland ist eine wehrhafte Demokratie. Für radikale, gewaltbereite Islamisten ist kein Platz in unserer Gesellschaft." Die "Lies!-Stiftung" aber rufe zum "Kampf gegen unsere Verfassung" auf. Mehr als 2000 Propagandavideos seien im Internet hochgeladen worden. Die Vereinigung habe mehrere hundert Mitglieder, teile die Welt in zwei Lager und "glorifiziert Mord und Terror".
Die Webseiten des Vereins waren am Dienstag nicht mehr aufrufbar. Das Vereinsverbot wurde von einer Großrazzia in zehn der 16 deutschen Bundesländer begleitet. Schwerpunkte waren Nordrhein-Westfalen, Bayern und Hessen. Hunderte Polizisten untersuchten dutzende Wohnungen, Moscheen, Büros und Lagerhallen von mutmaßlichen Unterstützern der IS-Terrormiliz. Die Razzia war lange vorbereitet, die Behörden wollten gegen mögliche Klagen gegen das Verbot gewappnet sein.
Der Verein ist nicht nur in Deutschland, sondern mittlerweile in zahlreichen anderen Ländern aktiv. Neben der Schweiz, Schweden, Frankreich, England und Spanien zählt dazu auch Österreich. Bisher habe es bei den Verteil-Aktionen keine Anhaltspunkte für strafbare Handlungen gegeben, heißt es aus dem Innenministerium in Wien. Die Aktivitäten des Vereins würden allerdings "aufmerksam beobachtet".
Der deutsche Innenminister hob hervor, dass das Vereinsverbot nicht auf die Werbung für den islamischen Glauben generell abziele und auch nicht auf dessen Ausübung: "Muslimisches Leben hat einen festen und gesicherten Platz in Deutschland und in unserer Gesellschaft. Die Religionsfreiheit gilt für alle und ist gelebte Realität." De Maizière verwies außerdem darauf, wie wichtig Präventionsmaßnahmen seien, um Jugendliche davon abzuhalten, sich radikalen Organisationen anzuschließen. Diese müssten ausgebaut werden, sagt der Berliner Psychologe Ahmad Mansour, der Projekte gegen Radikalisierung leitet. "Die Salafisten sind sozusagen die besseren Sozialarbeiter, sie erreichen die Jungen."
So erging es 2005 auch dem damals 17-jährigen Dominic Musa Schmitz: "Die Menschen sind freundlich. Sie nennen dich Bruder, sie hören dir zu - du fühlst dich plötzlich ernst genommen, wie befreit", schreibt er in seinem Buch "Ich war ein Salafist". Vorher fehlten ihm Halt, Struktur und Grenzen. Nach einiger Zeit in der Salafisten-Szene habe er sich allerdings "nicht mehr wie ein Mensch, sondern wie ein Roboter" gefühlt. Heute ist Schmitz in der Präventionsarbeit tätig und hält Vorträge in Schulen. "Massive Kritik aus dem eigenen Lager wäre die beste Antwort auf die salafistische Hetze und deren Intoleranz", schreibt er. Man müsse sich gegen "die krude Ideologie des IS" stellen, da dieser den Islam verrate.
Kontakt zu Vogel und Lau
Schmitz stand in engem Kontakt mit den deutschen Salafisten-Predigern Sven Lau und Pierre Vogel. Lau hat sich zurzeit in Nordrhein-Westfalen wegen Terrorverdachts vor Gericht zu verantworten. Er soll die dschihadistisch-salafistische Organisation "Jamwa" - "Armee der Auswanderer und Helfer" - in Syrien unterstützt haben. Pierre Vogel versuchte laut "Report Mainz" zusammen mit dem Gründer von "Die wahre Religion", Abou-Nagie, Kinder und Jugendliche auf Veranstaltungen und im Koran-Unterricht mit islamistischer Ideologie zu indoktrinieren.
Wie Vogel hat auch Abou-Nagie laut dem Landesamt für Verfassungsschutz Baden-Württemberg keine islamtheologische Ausbildung. Abou-Nagie wurde in einem Flüchtlingslager nahe Gaza geboren und kam als 18-Jähriger nach Deutschland. Seit mehr als 20 Jahren ist er deutscher Staatsbürger, hält sich aber derzeit vermutlich in Malaysia auf. Auch in Asien werde nun damit begonnen, den Koran zu verteilen, sagt er jüngst in einer seiner Videobotschaften.
Die Kampagne "Lies!" startete 2011. Bis Mitte 2016 wurden in Deutschland 3,5 Millionen Exemplare verteilt. Mehrere Male hatten deutsche Behörden bereits gegen den islamistischen Prediger bereits ermittelt. Verurteilt wurde Abou-Nagie schließlich allerdings wegen Sozialhilfebetrugs.
Salafisten wollen Staat, Rechtsordnung und Gesellschaft nach mittelalterlichen Regeln umgestalten. Sie sehen sich als Verfechter eines unverfälschten Islams, lehnen Reformen ab und betreiben die Errichtung eines islamistischen Gottesstaates. Die radikalen Islam-Vertreter interpretieren den Koran in ihrem Sinne und berufen sich auf jene Suren, in denen zum Kampf und zur Vernichtung der Ungläubigen aufgerufen wird.
Der Begriff "Salafisten" geht auf mittelalterliche islamische Texte zurück. "Al-Salaf al-Salih" bedeutet die "verehrungswürdigen Vorfahren". Im religiösen Sinn bezieht sich das auf die ersten drei Generationen frommer Muslime, die während und nach der Zeit des Propheten Mohammed gelebt hatten. Die "Gefährten des Propheten" (Sahabah) - sollen im Einklang mit dem "wahren Islam" gelebt haben.
Die Bewegung des Salafismus will eine Rückkehr zu den angeblichen Wurzeln des Islam und die Wiederherstellung der traditionellen Glaubensregeln. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts gab es auch moderate Strömungen wie die des Reformers Jamal al-Afghani, der den Islam mit modernen Vorstellungen zu versöhnen suchte. Die Mehrzahl der Salafisten fordert eine strikte Einhaltung der überlieferten Vorschriften.
Salafismus