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Deutschland wird im Irak zur Konfliktpartei

Von Michael Fischer und Christoph Sator

Politik

Raketen und Granaten gegen Völkermord - weit mehr als Symbolik.


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Bagdad/Berlin. (apa/dpa) Es ist ein klares Signal der Entschlossenheit im Kampf gegen den islamistischen Terror: Deutschland rüstet mehr als 8000 kurdische Kämpfer mit teils schweren Waffen aus. Ist das noch mit der Kultur der militärischen Zurückhaltung vereinbar?

500 Panzerabwehrraketen, 16.000 Sturmgewehre, 10.000 Handgranaten und 240 Panzerfäuste: Die Kurden im Irak sollen weit mehr Waffen aus Deutschland als erwartet bekommen, um sich gegen die Terrormiliz Islamischer Staat zur Wehr zu setzen. Hinzu kommen 100 Lastwagen, fünf gepanzerte Fahrzeuge und mehrere Millionen Schuss Munition. Schon mit einer ersten Tranche, die bis Ende September geliefert werden soll, können 4000 kurdische Peschmerga-Kämpfer ausgerüstet werden. Mit einer zweiten Tranche ein weiterer Großverband mit 4000 Soldaten.

Das alles ist keine Symbolpolitik mehr, sondern ein massiver Eingriff in den Kampf gegen den Islamischen Staat. Mit den ersten Waffen, die wahrscheinlich in zwei Wochen an die Kurden in Erbil übergeben werden, ist Deutschland Konfliktpartei.

"Kultur der militärischen Zurückhaltung" findet ihr Ende

Die deutsche Regierung hat lange über diesen Schritt nachgedacht. Dafür erfolgte er am Sonntagabend nach einer kurzen Sitzung der zuständigen Minister mit Bundeskanzlerin Angela Merkel im Kanzleramt umso entschlossener. Verteidigungsministerin Ursula von der Leyen begründete ihn anschließend mit der "gnadenlosen Brutalität" der IS-Banden. "Die Folgen sind nicht nur für die Nachbarschaft, sondern auch für Europa und damit auch Deutschland unabsehbar", ergänzte Außenminister Frank-Walter Steinmeier.

Am gestrigen Montag hat Angela Merkel bei einer Sondersitzung des Bundestages eine Regierungserklärung abgegeben - angesichts der Brisanz der Angelegenheit keine einfache Sache. Die Koalition aus Union und SPD steht zwar - abgesehen von wenigen Abgeordneten - hinter der Regierungslinie. Etwa zwei Drittel der Bundesbürger sind aber allen Umfragen zufolge dagegen. Vielleicht auch ein Grund dafür, dass die Regierung ihre Entscheidung auf einen Zeitpunkt unmittelbar nach der Landtagswahl in Sachsen verschob - obwohl die Fakten seit Mittwoch auf dem Tisch lagen. Merkel muss sich jedenfalls der Frage gefallen lassen, ob die Waffenlieferung in diesem Ausmaß noch mit der lange Zeit von den Regierungen hochgehaltenen "Kultur der militärischen Zurückhaltung" vereinbar ist. Als Hauptgrund für die Rüstungshilfe hat sie selbst schon in den vergangenen Tagen die Massaker des IS unter Jesiden und Christen genannt.

"Man kann von einem Völkermord sprechen", meint die Kanzlerin. So lautete auch die Begründung, als die Bundeswehr vor 15 Jahren das erste Mal in einen Kampfeinsatz geschickt wurde und sich an den Nato-Bombardements im Kosovo-Krieg beteiligte. Jetzt geht es wieder um eine sicherheitspolitische Entscheidung, die es so noch nicht gab.

Es ist zwar nicht das erste Mal, dass deutsche Waffen in ein Krisengebiet geliefert werden. Seit Jahrzehnten wird Israel unabhängig von der Lage im Nahost-Konflikt mit Rüstungsgütern versorgt. Das ist aber ein Sonderfall: Wegen des Holocausts ist der Schutz des Existenzrechts Israels deutsche Staatsräson. Waffenlieferung dorthin werden nicht nur genehmigt, sondern sogar mit hunderten Millionen Euro deutscher Steuergelder gefördert.

Berlin nennt Militärhilfe "Ausnahmefall"

Im Irak wird dagegen erstmals eine Konfliktpartei unterstützt, die nicht zu Deutschlands traditionellen Verbündeten gehört. Und das, obwohl die kurdische Autonomieregierung politische Ziele verfolgt, die die Regierung ablehnt und sogar für gefährlich hält. Der kurdische Präsident Massoud Barsani, mit dem Außenminister Steinmeier vor zwei Wochen in Erbil über die Waffenlieferungen verhandelte, strebt die Unabhängigkeit seiner Region an.

Es scheint wie ein böses Omen vor der Ankunft der deutschen Waffen: In Syrien hat die IS offenbar Raketen aus deutscher Produktion erbeutet. Das berichtete die Tageszeitung "Die Welt" am Montag unter Berufung auf ein im Internet kursierendes Video der Gruppe. In dem Video ist zu sehen, wie IS-Aktivisten neben Raketen mit der Aufschrift "Lenkflugkörper DM 72 - Panzerabwehr" posieren.

Bei diesem Raketentyp handele es sich um Panzerabwehrwaffen vom Typ Hot des ehemaligen deutsch-französischen Herstellers Euromissile, heißt es in dem Bericht. Diese Raketen seien 1981 nach Syrien geliefert worden, wo sie für die Ausstattung der Kampfhubschrauber "Gazelle" verwendet worden seien.

Wissen

Die USA schicken schon lange Waffen für den Kampf gegen die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) in den Irak. Jetzt wollen auch mehrere EU-Staaten die Kurden im Norden des Landes unterstützen. Die deutsche Regierung hat sich ebenfalls für Waffenlieferungen entschieden. Welche Länder liefern nun schon Waffen?

USA/Kanada: Laut US-Kongress haben die Amerikaner ihre Waffenlieferungen an den Irak seit Dezember 2013 verstärkt. Zunächst wurden danach 675 Hellfire-Raketen geliefert. Ende Juli sollen 500 weitere zugesagt worden sein. Auch 30 Apache-Kampfhubschrauber und 36 F16-Kampfjets sollen geliefert werden.

Iran: Teheran hat Lieferungen offiziell nie bestätigt. Nach Angaben von Massoud Barzani, dem Präsidenten der kurdischen Autonomiegebiete im Nordirak, war der Iran aber sogar das erste Land, das Waffen schickte.

Frankreich: Als erstes EU-Land hat Frankreich früh sofortige Waffenlieferungen angekündigt. Über Art und Menge schweigt die Regierung in Paris allerdings. Nach unbestätigten Informationen stellt Frankreich vor allem schwere Maschinengewehre sowie Raketenwerfer zur Verfügung.

Großbritannien: London hat sich bereits Mitte August grundsätzlich zur Versorgung der irakischen Kurden mit Waffen bereit erklärt. Konkrete Beschlüsse sind aber noch nicht bekannt geworden.

Italien: Rom will nur leichte Waffen schicken.

Andere europäische Länder: Die Kurden kämpfen mit Handfeuerwaffen aus der ehemaligen Sowjetunion, die auch die Armeen im früheren Ostblock in ihren Beständen haben. Ungarn und Tschechien haben die Lieferung von Munition bereits beschlossen. Kroatien und Albanien haben offiziell bestätigt, dass sie auch Waffen liefern. Dänemark will Transportflieger beisteuern.

Österreich: Waffenlieferungen in Krisengebiete sind rechtlich nicht möglich. Die Regierung hat beschlossen, dass eine Million Euro aus dem Auslandskatastrophenfonds in den Nordirak fließen soll.