Ralf Beste, Berlins Botschafter in Wien, über Merkels Stärke und Deutschlands Interessen in und an Europa.
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Am 1. Juli übernimmt mit Deutschland mitten in der schwersten Krise seit 1945 das mächtigste Land der Union für sechs Monate die EU-Ratspräsidentschaft. Darüber hat die "Wiener Zeitung" mit Ralf Beste (54), dem deutschen Botschafter in Österreich, gesprochen. Beste ist seit September 2019 in Wien.
"Wiener Zeitung": Das Motto der deutschen EU-Ratspräsidentschaft lautet "Gemeinsam. Europa wieder stark machen". Klingt stark nach "Make America Great Again", den Kampagnenslogan, mit dem Donald Trump gewonnen hat.Ralf Beste: In einer verkürzten direkten Übersetzung könnte man das denken.
Wie ist der Leitspruch also zu verstehen?
Das Bemühen, sein Land oder seine Organisation stark zu machen, ist völlig legitim, das gilt auch für die USA. Der deutschen EU-Ratspräsidentschaft geht es um die Stärke und Selbstbehauptung Europas - und dem ordnen wir vieles unter.
Angela Merkel wird bei der Bundestagswahl 2021 nicht mehr antreten. Stärkt sie das für den EU-Vorsitz, weil sie keine Rücksicht mehr nehmen muss, oder macht es sie, den Abschied vor Augen, zur sprichwörtlichen "lahmen Ente"?
So wie die Kanzlerin in der Corona-Krise wahrgenommen wurde, muss sie nicht fürchten, nun als "lahme Ente" behandelt zu werden. Ich sehe große Anerkennung für ihre Arbeit und auch für ihre jüngsten Initiativen, die keinerlei Zeichen von Entscheidungsschwäche aufweisen. Von daher bin ich sicher, dass sie ihre Autorität gut einzusetzen weiß. Aber ihr ist klar, dass nur dann Lösungen gefunden werden, wenn alle 27 EU-Staaten an einem Strang ziehen. Deutschland ist zwar das größte Land, aber allein kann es nichts erreichen.
Nicht nur das größte, sondern auch das mächtigste Land. Nun fordert die deutsche Chefin der EU-Kommission, Ursula von der Leyen, Europa müsse "die Sprache der Macht lernen". Beherrscht Deutschland die Sprache der Macht?
Aufgrund seiner Geschichte hat das Nachkriegsdeutschland ein schwieriges Verhältnis zu Macht, zu eigenen Interessen und zu deren robuster Durchsetzung. Das ist Teil der DNA Deutschlands nach 1945 und daran wollen wir auch nicht viel ändern. Nur die EU hätte im globalen Maßstab genügend Macht, um einen Unterschied zu machen.
Deutschland versteht es trotzdem, seine Interessen durchzusetzen. Die Gas-Pipeline Nord Stream - an der auch Österreich beteiligt ist - stößt in und außerhalb der EU auf Widerstand; die Eurozone ist nach deutschen Vorstellungen konstruiert, auch industriepolitisch gibt Berlin den Ton an. Verleugnet Deutschland nicht seine Macht?
Nur wenn Sie unterstellen, dass Macht und Interessen das Gleiche wären. Deutschland hat, wie jedes andere Land, Interessen. Im Rückblick stimmt es, dass Deutschland sich schwerer als andere Länder getan hat, damit offen umzugehen. Man sieht aber jetzt an den deutschen Vorschlägen zum EU-Wiederaufbaufonds, wie wir offen darüber reden, dass es dabei auch um deutsche Interessen geht. Der Vorstoß bedeutet, zugegeben, eine große Positionsveränderung, und sie wird nicht aus Selbstlosigkeit begründet, sondern aus Interessen - konkret sind dies Wohlstand für Deutschland und Zusammenhalt in Europa.
Apropos Positionswechsel: Führungsanspruch hat mit Vertrauen und Berechenbarkeit zu tun. Bei Deutschland wissen die Partner aber nicht immer, woran sie sind. Wiederholt hat Deutschland seine Haltung in zentralen Fragen um 180 Grad gedreht: bei Atomkraft, in der Migrationsfrage, jetzt in der Haushalts- und Schuldenpolitik.
Stellen Sie sich vor, es wäre andersrum: Die ganze Welt ändert sich, nur Deutschland würde immer das Gleiche sagen und wollen! Und wir sind mit diesen Kursänderungen auch nicht allein. Zudem hat sich Deutschlands relative Position in Europa dadurch verändert, dass wir - genau wie Österreich - in den vergangenen 10 Jahren einen stabilen Wachstumskurs erlebten und mit Großbritannien eine andere Führungsmacht ausgeschieden ist. Beides lässt die Führungserwartung an Deutschland größer werden, und zwar größer, als es den Deutschen manchmal selbst bewusst geworden ist. Man schaut genauer auf uns hin, und die Zeiten, wo wir Entscheidungen allein für uns treffen konnten, sind vorbei. Daran müssen wir uns jetzt anpassen.
Was von außen verunsichert, sind nicht so sehr Positionsveränderungen an sich, sondern dass diese ohne breite Debatte erfolgen.
Ihre Wahrnehmung nehme ich gerne mit. Vielleicht hängt es damit zusammen, dass Deutschland erst langsam seine Führungsrolle und die damit einhergehende Verantwortung wahrnimmt, sich besser zu erklären. Gleichzeitig zeigen Krisen, dass es darauf ankommt, schnell zu handeln; das ist jetzt in der Pandemie der Fall und das war es auch in der Migrationskrise. Bei der Frage des Wiederaufbaufonds war es wichtig, dass alle möglichst rasch wissen, wo Deutschland steht. Das ist nach dem gemeinsamen Vorschlag mit Frankreich nun der Fall.
Was werden die Eckpunkte der deutschen EU-Ratspräsidentschaft sein und, fast noch wichtiger, welche Themen sollen auch abgeschlossen werden?
Vom preußischen General Helmuth Graf von Moltke stammt der Satz: "Kein Plan überlebt die erste Feindberührung" . . .
. . . was die Frage nach dem Feind aufwirft . . .
Der Feind ist in diesem Fall die Realität. Es gibt Themen, die werden durch die Corona-Krise diktiert, andere sind dem Kalender der EU geschuldet, etwa der Brexit und das EU-Budget, und dann gibt es noch die Themen, die wir als Vorsitz selbst auf die Tagesordnung heben, nicht aus Drang zur Selbstverwirklichung, sondern immer in der Rolle eines ehrlichen Maklers. Dabei wollen wir die Beziehungen zu China und Afrika in den Fokus rücken.
Was ist China für die Union?
Alles! China ist Partner, Wettbewerber und manchmal auch Rivale. Das Land ist eine aufstrebende Großmacht, mit der wir wirtschaftlich eng verbunden sind, die auch einen wachsenden Einfluss auf unsere Wirtschaft und Gesellschaft ausübt. Der Aufstieg Chinas zwingt uns zu permanenten Anpassungen an die Realität, und wir müssen als Europäer so rasch wie möglich eine gemeinsame Linie für den Umgang mit China finden.
Wo werden die Deutschen heuer Urlaub machen?
Möglicherweise werden mehr Menschen heuer keinen Urlaub machen, als wir uns das wünschen, einfach weil sie die finanziellen Folgen der Krise spüren. Mehr werden auch in Deutschland selbst bleiben. Trotzdem ist mein Eindruck, dass sich viele Deutsche darauf freuen, in ihre klassischen Urlaubsländer zu fahren, also Italien, Spanien, Griechenland und natürlich auch Österreich.
Und Sie selbst?
Ich werde das Privileg genießen, in meinem Gastland Urlaub zu machen. Ich habe mir einige Radrouten für Tirol herausgesucht, womöglich wird es aber auch Kärnten.