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"Die Abstimmung wurde gefälscht, der Sieg wurde uns gestohlen"

Von WZ-Korrespondent Frank Nordhausen

Politik

Am Tag eins nach dem türkischen Verfassungsreferendum herrscht bei Erdogans Anhängern eitel Wonne - das "Nein"-Lager fühlt sich betrogen.


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Istanbul. Wenn viele Menschen den Kopf hängen lassen, sticht der Fröhliche unter ihnen hervor wie ein Osterei unter Farmeiern. Drei Männer um die 30 Jahre alt, mit gestutzten Schnurrbärten und weißen Kitteln schneiden am Montagmorgen Fleisch vom Spieß für Dönerfladen in einer Seitenstraße der belebten Einkaufsstraße Istiklal Caddesi im Herzen Istanbuls. "Wir sind total glücklich", sagt Meister Mohammed und schwingt sein Dönermesser wie einen Säbel. "Gestern war ein großer Tag für die Türkei. Jetzt kann unsere Nation niemand mehr aufhalten." Mohammed hat wie seine beiden Kollegen am Sonntag für die Verfassungsänderungen in der Türkei gestimmt, vor allem aber für den Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdogan, der schon sehr mächtig ist, aber jetzt noch mächtiger werden wird, weil die Reform seinen Einfluss auf die Justiz mehrt und den Einfluss des Parlaments beschneidet. Die Türkei wird damit von einer parlamentarischen zu einer gelenkten Demokratie, ähnlich wie Wladimir Putins Russland.

Es war die wohl bedeutendste Volksabstimmung im Land seit Gründung der Republik durch Mustafa Kemal Atatürk im Jahr 1923. Die Opposition warnte eindringlich vor dieser Ein-Mann-Herrschaft. Trotz des beispiellosen Einsatzes staatlicher Ressourcen in einem erdrückenden Wahlkampf lag das "Ja"-Lager nach einem dramatischen Wahlkrimi denkbar knapp mit 51,4 Prozent der Stimmen vorne, während 48,7 Prozent für "Nein" votierten - glaubt man der Wahlkommission und Erdogans islamisch-konservativer Regierungspartei AKP. Die andere Hälfte des Volkes hat daran allerdings ihre Zweifel, und das könnte sich zu einem großen Problem auswachsen.

Trotz des heiteren Himmels liegt an diesem Morgen eine trübe Stimmung über dem Innenstadtbezirk Beyoglu, wo viele Menschen leben und arbeiten, die das Abstimmungsergebnis zutiefst schockiert hat. "Ich bin traurig und wütend zugleich", sagt Casan Caglar, ein schlanker Mann, 37 Jahre alt, mit modern gestutztem Vollbart. Er ist einer der Manager der großen Buchhandlung "Mephisto" an der Einkaufsstraße. "Das Wahlergebnis ist erstens eine Katastrophe und zweitens stimmt es vorne und hinten nicht. In Wahrheit hat das ‚Nein‘ gewonnen, aber 2,5 Millionen Stimmen wurden einfach dem ‚Ja‘ zugeschlagen. Diese Wahlfälschung ist grotesk, die Opposition muss jetzt auf den Tisch schlagen."

Wen auch immer man aus dem "Nein"-Lager befragt, alle erwidern das Gleiche: "Die Abstimmung wurde gefälscht, der Sieg wurde uns gestohlen." Niemand glaubt an eine faire Abstimmung. Entrüstung ruft vor allem eine Entscheidung hervor: Noch während der laufenden Abstimmung erklärte die Hohe Wahlkommission entgegen jeder bisheriger Praxis, dass auch ungekennzeichnete Stimmzettel und Umschläge als gültig gezählt würden, solange es keine Beweise dafür gäbe, dass die Umschläge von außen in die Wahllokale geschmuggelt wurden. Anfangs hieß es, dass von der Entscheidung nur rund 500 Stimmzettel betroffen seien, noch in der Nacht war aber plötzlich von bis zu 2,5 Millionen Wahlzetteln die Rede.

"Wegen dieser Probleme wollten wir unbedingt auf die Ergebnisse der OSZE-Beobachter warten, aber die Regierung schafft vollendete Tatsachen", sagt Mithat Sancar, Parlamentsabgeordneter der linken prokurdischen Oppositionspartei HDP. Die Wahlbeobachter hätten zum Beispiel zahlreiche Hinweise auf erhebliche Diskrepanzen zwischen den ausgezählten und den nach Ankara übermittelten Daten festgestellt. "Die Legitimität dieser Wahl ist höchst fragwürdig. Schon der Wahlkampf war extrem unfair, aber der Wahlausgang ist nicht mehr nachvollziehbar", so Sancar. Schon vor der Wahl hatten Experten gewarnt, dass es möglich sei, ein bis drei Prozent der Wählerstimmen zu manipulieren - genau die Marge, mit der das "Ja"-Lager offiziell gewonnen hat.

Ministerpräsident Binali Yildirim und Staatspräsident Erdogan verkündeten den Sieg bereits gegen halb zehn Uhr am Sonntagabend, als noch nicht alle Stimmen ausgezählt waren und der Abstand zwischen "Ja" und "Nein" in den Hochrechnungen immer knapper wurde. Mit Löffeln schlugen wütende Bürger in Oppositionsvierteln Istanbuls zeitgleich auf Kochtöpfe, um ihren Protest auszudrücken. Für den Montagabend wurden trotz des Ausnahmezustands Demonstrationen in Istanbul und Ankara angekündigt.

"Mindestens 50 Prozent haben ,Nein‘ gesagt"

Auch die größte Oppositionspartei CHP zweifelte das Ergebnis bereits in der Wahlnacht an, verlangte eine Neuauszählung und wollte die unzulässigen Stimmzettel nicht gelten lassen. "Dieses Referendum hat eine Wahrheit ans Licht gebracht: Mindestens 50 Prozent dieses Volkes hat dazu ‚Nein‘ gesagt", sagte der türkische Oppositionsführer Kemal Kilicdaroglu, Chef der sozialdemokratischen CHP. Das Internetvideo eines Wahllokalhelfers aus dem südöstlichen Sanliurfa, der munter "Ja" auf Stimmzettel stempelte, führte zu Empörung in den sozialen Medien.

Hatten internationale Beobachter wie der Berliner Bundestagsabgeordnete der Grünen, Özcan Mutlu, den Wahlverlauf zunächst noch als entspannt und korrekt empfunden, so mehrten sich seit der Nacht die kritischen Stimmen. Stefan Schennach von der Parlamentarischen Versammlung des Europarats (PACE), der mit einem Team das Referendum beobachtet hatte, erklärte, dass die Abstimmung "weder fair noch frei" gewesen sei. "Nach unserem Besuch in Diyarbakir und Mardin sind wir zutiefst besorgt. Die Polizei verhinderte zweimal unsere Beobachtung", schrieb er auf Twitter. Auch wurden Wahlbeobachter der HDP in der Kurdenhochburg Diyarbakir in Südostanatolien von der Polizei an ihrer Arbeit gehindert und festgenommen.

Buchhändler Casan Caglar aus der Istiklal Caddesi macht sich angesichts des Abstimmungsausgangs große Sorgen nicht nur um die Türkei, sondern ganz konkret um seine Familie. "Man hat den Eindruck, dass die Regierung einen lang vorbereiteten Plan ausführt, und die Leidtragenden werden vor allem die Frauen sein", sagt er. "In letzter Zeit wurden Frauen auf der Straße oder in der Metro geschlagen, weil sie angeblich zu kurze Kleider oder Shorts trugen. Sie arbeiten an der Veränderung der gesamten Gesellschaft. Sie arbeiten an einer Islamischen Republik wie im Iran." Erdogan habe nun einen Freibrief erhalten, um die Gesellschaft rigide umzuformen.

Caglar steht mit seiner Meinung nicht allein, viele und nicht nur junge Leute haben große Angst vor dem, was jetzt kommen mag. "Alle meine Freunde sind total schockiert. Wir brauchen jetzt erstmal ein paar Tage, um zu verstehen, was gestern passiert ist", sagt der Manager. "Eines aber ist sicher: 2,5 Prozent Vorsprung für das ‚Ja‘-Lager sind viel zu wenig, als dass wir uns jemals damit abfinden könnten. Hätten die Befürworter 60 Prozent erzielt, sähe es anders aus."

Doch nicht nur das "Nein"-Lager ist geschockt. "Das Ergebnis ist bei Weitem nicht gut genug. Wie kann es sein, dass das ,Ja‘ am Schwarzen Meer 70 Prozent erhalten und in Istanbul verloren hat?", fragt ein heißblütig wirkender Schmuckverkäufer in der Istiklal Caddesi, der immer die AKP gewählt hat. "Ich bin sehr enttäuscht. Was ist bloß in die Leute gefahren?" Vor allem das vorläufige amtliche Endergebnis für Istanbul und die Hauptstadt Ankara, die beiden größten und wichtigsten Metropolen des Landes, irritiert ihn. Dort hat sich erstmals nach fast 15-jähriger Vormachtstellung eine, wenn auch geringe, Mehrheit gegen Erdogan ausgesprochen. Mit der Ägäismetropole Izmir, wo "Nein" fast 70 Prozent holte, haben die drei bedeutendsten Städte des Landes ebenso wie die liberalen westlichen Küstenregionen gegen die Verfassungsreform gestimmt.

Doch entschieden wurde die Abstimmung in der Provinz - in Zentralanatolien, am Schwarzen Meer und in den konservativen südostanatolischen Großstädten Sanliurfa und Gaziantep, wo die islamisch-konservative Regierungspartei AKP traditionell ihre Hochburgen hat und das "Ja"-Lager seinerseits 70 Prozent holte. Das fromme Anatolien hat gegen den säkularen, wirtschaftlich starken Westen und den kurdisch geprägten Südosten votiert - und wohl auch gegen die türkische Republik des Gründers Atatürk.

Aber sind insgesamt 51,4 Prozent wirklich ein gutes Resultat für Erdogan, die AKP und ihren neuen Verbündeten, die rechtsextreme Oppositionspartei MHP? Bei den letzten Parlamentswahlen im November 2015 kamen beide Parteien zusammen auf rund 65 Prozent der Stimmen. Bei der Präsidentschaftswahl 2014 holte der "Boss", wie Erdogan von seinen Anhängern genannt wird, 52 Prozent. Man hätte also deutlich mehr Stimmen für das Ja erwarten können.

Erdogan lässt sich von Anhängern feiern

Trotzdem ließ sich Erdogan schon kurz nach halb zehn Uhr in der Wahlnacht von seinen Anhängern in Istanbul feiern. Die Türkei habe mit dem Referendum eine historische Entscheidung getroffen und einen Schlussstrich unter eine 200-jährige Debatte um das richtige Regierungssystem gezogen, rief er einer vielhundertköpfigen, jubelnden Menge zu. Es handle sich um die wichtigste Regierungsreform der türkischen Geschichte. Er ließ keinen Zweifel daran, dass er seinen harten Repressionskurs gegen Kritiker weiterführen werde und kündigte die Wiedereinführung der Todesstrafe an, die er während des Wahlkampfs immer wieder gefordert hatte, notfalls mit einem neuen Referendum. "Ich werde das Thema umgehend mit dem Ministerpräsidenten und Herrn Bahceli diskutieren."

Devlet Bahceli, der Chef der rechtsextremen Oppositionspartei MHP, ein eingefleischter Kemalist, der mit seiner parlamentarischen Unterstützung das Referendum erst ermöglichte und dem "Ja"-Lager wohl zur entscheidenden knappen Mehrheit verhalf, wird zum wahren Totengräber der fast hundertjährigen Republik Atatürks. Das ist die bittere Ironie hinter dieser Geschichte, deren Ergebnis bei Erdogans Fans bei weitem nicht die Euphorie weckt, die man hätte erwarten können.

"Ich glaube, dass Erdogan und der AKP-Regierung bewusst ist, dass ihr System wackelt, und sie das Referendum deshalb abgehalten haben", sagt der Leiter der Heinrich-Böll-Stiftung der deutschen Grünen in Istanbul, Kristian Brakel. "Erdogan hat seine Position abgesichert, sodass er die nächsten Jahre noch überwintern kann. Aber irgendwann wird das System zusammenbrechen."