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Armenien konnte sich im Konflikt um Bergkarabach auf Russland nur halb verlassen - und auf den Westen gar nicht.
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Am Ende war die Trauer stärker als selbst die Wut. Still, erstaunlich still vollzieht sich der Auszug der Armenier aus jenen an Bergkarabach grenzenden Gebieten, die für mehr als ein Vierteljahrhundert unter armenischer Kontrolle standen. Der Schock über die totale Niederlage im jüngsten Krieg um Bergkarabach, über den als Kapitulation empfundenen Waffenstillstand, nach dem nun russische Friedenstruppen die armenische Bevölkerung in Rest-Bergkarabach schützen, vor allem aber über den Verlust der gebirgigen Heimat mit ihren Canyons, alten Kirchen und Granatapfelgärten sitzt zu tief.
Manche pilgern noch ein letztes Mal zum uralten Kloster Dadiwank, einem Zentrum der Armenischen Apostolischen Kirche, um Kerzen anzuzünden, Abschied zu nehmen und vom Priester den Segen zu erbitten.
Russland schützt Klöster
Es wird wohl ein Abschied für immer sein. Zwar hat Aserbaidschans Präsident Ilham Alijew auf Wunsch von Russlands Staatschef Wladimir Putin zugesagt, dass den Kirchen nichts geschehe. Groß ist das Vertrauen seitens der Armenier in diese Zusage aber nicht. Zu oft wurden von den verfeindeten Muslimen in der Vergangenheit bereits armenische Kulturgüter vernichtet. Und im Netz zirkulieren Videos, die zeigen, wie aserbaidschanische Soldaten, "Allahu akbar" rufend, in dem von ihnen eroberten Gebiet Kirchen entweihten. Als Trost bleibt, dass Russland zugesichert hat, den Klosterkomplex mit seinen Friedenssoldaten zu schützen.
Trotz allem gibt es Armenier, die in dem Gebiet bleiben wollen. "Was sollen die Aserbaidschaner mir schon antun? Ich habe meine Angst längst verloren. Ich bleibe hier", zitiert die deutsche Zeitung "taz" eine ältere Frau.
Sarg aus Grab geholt
Doch sie ist eine Ausnahme. Fast alle Armenier ziehen aus den Gegenden, das an Aserbaidschan fallen, ab. Der Gedanke, mit den verfeindeten Aseris zusammenzuleben, ist für die meisten unerträglich. Alles, was noch gebraucht werden kann, wird mitgenommen: Hausrat, Ikonen. Viele Einwohner verbrennen ihre Häuser. Nichts soll des Aseris in die Hände fallen. Ein Mann holte gar den verfaulten Sarg seines Sohnes aus dem Grab, um ihn nach Armenien mitzunehmen. Die Autos sind vollgepackt, es gibt Staus. Die Granatäpfel werden demnächst von Anderen geerntet.
In Aserbaidschan ist dafür die Freude über die Rückgewinnung jener Gebiete, die im Krieg um das abtrünnige Bergkarabach vor über 25 Jahren verlorengingen, groß. Bis heute hausen viele der mehr als 100.000 Aseris, die einst in Armenien oder Bergkarabach lebten, in Flüchtlingslagern. Manche werden sich freuen, wieder in die alte Heimat zu kommen.
"Teile und herrsche"-Politik Russlands
Der Konflikt zwischen Aseris und Türken auf der einen und Armeniern auf der anderen Seite ist uralt. Den zahlenmäßig hoffnungslos unterlegenen Armeniern, die immer wieder Opfer von Pogromen und - im Osmanischen Reich - auch Opfer eines Völkermordes wurden, blieb dabei nur die Hoffnung auf eine externe Schutzmacht. Als solche bot sich im 19. Jahrhundert das orthodoxe Russland an.
Der Zar, selbst Gebieter über ein multinationales und multireligiöses Imperium, trat freilich auch nicht als Wahrer armenischer Interessen auf. Er suchte eher mittels einer "Teile und herrsche"-Politik die russische Vorherrschaft im Südkaukasus abzusichern. Das traf besonders auch auf die Sowjetunion zu, wo Nationalitätenkommissar Josef Stalin, der als Georgier die Konfliktlagen im Kaukasus gut kannte, das zu über 90 Prozent armenische Bergkarabach gegen den Willen der Einwohner Aserbaidschan zuschlug.
Stalins böse Saat ging auf
Als der eiserne Deckel des Sowjetstaates in den 1980er Jahren Risse bekam, war es der Konflikt um Bergkarabach, der das Ende des Vielvölkerreiches einleitete. Es kam zu Pogromen an Armeniern in Aserbaidschan und zu Vertreibungen und Mordtaten auf beiden Seiten. Stalins böse Saat ging auf. Der Krieg von 1991 bis 1994 wurde mit äußerster Brutalität geführt – und er endete überraschenderweise mit einem de-facto-Sieg Armeniens über das wesentlich größere und bevölkerungsreichere Aserbaidschan.
In Baku hat man diese Schmach nie vergessen. Immer wieder betonte man, sich das verlorene Staatsgebiet – das unmittelbare Bergkarabach und die umliegenden Pufferzonen – zurückholen zu wollen. Die Voraussetzungen dazu wurden mit den Jahren besser, denn Aserbaidschan verfügt im Gegensatz zum bitterarmen Armenien über Öl- und Gasvorkommen. Wichtige Pipelines führen über sein Gebiet. Zudem weiß es die Regionalmacht Türkei zu 100 Prozent hinter sich. Im aktuellen Krieg sollen von den Türken auch dschihadistische Kämpfer aus Syrien an die Front geschickt worden sein – erfahrene Krieger, deren Präsenz auf dem Schlachtfeld den unerfahrenen jungen Armeniern Angst eingejagt haben soll.
Kreml muss auf Muslime Rücksicht nehmen
Jerewan hingegen kann sich auf Moskau – wie seit jeher – nur halb verlassen. Zwar gilt Russland als Schutzmacht der christlichen Armenier. Doch das Riesenreich ist immer noch multinational und multireligiös. Es kann sich nicht leisten, offen an der Seite von Christen gegen Muslime zu kämpfen. Die Gefahr bestünde, dass es das Imperium zerreißt.
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Schließlich nimmt auch in Russland der Anteil der Muslime stetig zu, und autonome, muslimisch geprägte Republiken wie Tatarstan befinden sich im Herzen Russlands. Kein Wunder, dass Russlands Staatschef Wladimir Putin, unter dessen Druck der Waffenstillstand zustande kam, die zornigen Armenier davor warnte, das Abkommen wieder zu kündigen. "Das wäre Selbstmord", sagte er.
Hoffnungen, dass der Westen Armenien zur Seite stehen könnte, zerstoben rasch. Die EU zeigte sich außenpolitisch wie so oft inaktiv, und in Zeiten von Corona und US-Wahl rückte das Thema auch auf Zeitungsseiten nach hinten. In Jerewan und Bergkarabach ist der Frust über dieses Desinteresse groß. Als Schutzherr, auf den man sich halbwegs verlassen kann, bleibt einmal mehr nur Russland übrig, das seine Stellung im Südkaukasus festigt – was US-Außenminister Mike Pompeo dazu bewog, dem benachbarten Georgien ostentativ die Unterstützung der USA zuzusichern.
Der zweite Gewinner ist die Türkei, die sich immer stärker als regionale Großmacht etabliert. Russlands Zögern, an der Seite der Armenier einzugreifen, dürfte auch damit zu tun haben, dass man keinen Konflikt mit Ankara vom Zaun brechen wollte.