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Die alles entscheidende Frage

Von Christian Ortner

Gastkommentare
Christian Ortner.

Wer den europäischen Sozialstaat aufrechterhalten will, kann nicht die Türen der Festung Europa allzu weit öffnen.


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Vom Wirtschaftsnobelpreisträger Milton Friedman stammt die trockene Feststellung, man könne einen Sozialstaat haben, man könne auch offene Grenzen haben, aber man könne nicht beides zugleich haben.

Der verblichene Ökonom beschrieb damit punktgenau jenes Dilemma, an dem sich die veröffentlichte Meinung und die politische Klasse Europas abarbeiten, seit vor rund zwei Wochen hunderte Migranten im Mittelmeer ertrunken sind.

Denn all jene, die nun unter dem Eindruck der Tragödie auf See eine großzügigere Einwanderungspolitik der EU und ihrer Mitglieder fordern und die "Festung Europa" zu einem Monument der Inhumanität erklären, sind meist auch politische und mediale Akteure, denen der Sozialstaat nicht sozial genug sein kann.

Damit entsteht aber ein ganz offenkundiges und nicht wegzudefinierendes Dilemma. Wenn die Zuwanderung aus schwarzafrikanischen Armutszonen (wir reden hier nicht von syrischen Kriegsflüchtlingen) tatsächlich in signifikantem Ausmaß zunähme, geriete der ohnehin schon stark beanspruchte und finanziell angeschlagene Sozialstaat in den meisten Ländern Europas ganz rasch an die Grenzen seiner Leistungsfähigkeit und bald darüber hinaus.

Würde auch nur ein nennenswerter Teil all jener, die aus Afrika nach Europa wollen, auch wirklich nach Europa kommen, wäre dies mit Sicherheit das Ende des europäischen Sozialstaates, wie wir ihn heute kennen.

Akzeptiert man das einfach nicht, weil man glaubt, dass durch bloßes Wünschen Probleme verschwinden, ist man ein politischer Hasardeur, der letztlich die Geschäfte rechtsextremistischer Gruppierungen betreibt, die von einer solchen Fehlentwicklung profitieren. Der Aufstieg der FPÖ in Österreich ist ja teilweise durchaus einem ähnlichen politischen Versagen geschuldet.

Akzeptiert man hingegen, dass Sozialstaat und offene Grenzen letztlich nicht miteinander vereinbar sind, ergeben sich daraus leider weitere unangenehme Fragen, um die sich vor allem die Anhänger stärkerer Migration von Afrika nach Europa bisher gedrückt haben. Denn dann muss gelten, dass Einwanderung nur kontrolliert, kontingentiert und in legalem Rahmen stattfinden kann. Nur: Wie viele nehmen wir dann tatsächlich mehr auf als jetzt: ein paar tausend, hunderttausend, eine Million, noch mehr? Und wo werden sie angesiedelt?

Wer immer die Tore der "Festung Europa" öffnen will, kann das nur redlich argumentieren, wenn Ross und Reiter beim Namen genannt werden: wie viele und wohin? Wolkig "mehr Humanität" zu fordern und "tödliche Grenzen" anzuprangern, reicht leider gar nicht aus.

Wer akzeptiert, dass Migration nur einem (wohl eher kleinen) Teil der Migrationswilligen helfen kann, akzeptiert damit aber implizit, dass es deshalb auch weiterhin illegale Schlepper, untergehende Boote und ertrinkende Menschen geben wird. Im besten Fall weniger als jetzt, aber eben nicht gar keine.

Das ist eine sehr unbefriedigende Erkenntnis, aber es ist letzten Endes die bittere Konsequenz aus dem Faktum, dass offene Grenzen und Sozialstaat eben nicht miteinander vereinbar sein. Erwachsene Politik wird das auch aussprechen, anstatt vorzugaukeln, die Logik und die Wirklichkeit irgendwie austricksen zu können.