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Das in den letzten Jahren schwierig gewordene Verhältnis zwischen Europa und den USA ist nicht nur mit einer Vielzahl von Vorurteilen belastet. Die Darstellung in den Medien des Kontinents ist naturgemäß meist auch einseitig, weil sie Fakten und Befindlichkeiten fast nur aus dem nach Westen gerichteten Blickwinkel analysieren und kommentieren. Wenn der Blick von den Amerikanern nach Osten gerichtet wird, ergibt sich vielfach und eigentlich unerwartet, dass es den Europäern in vielen Lebensbereichen besser geht als den Amerikanern - nur sollte Europa mehr Wirtschaftswachstum schaffen.
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Diese amerikanischen Analysen halten sich nur kurz mit den gegenseitigen Vorurteilen auf, die da sind: das überregulierte und unproduktive Europa mit seinem unfinanzierbaren Wohlstandssystem aus Sicht der US-Bürger; und von der Warte der Europäer die reichen Amerikaner, die mit ihren Schulden auf Kosten der übrigen Welt leben und diese auch noch mit ihrem umweltkatastrophalem Verhalten ruinieren.
Zuerst "gelobtes Land"
Die Hochschaubahn wechselseitiger Ein- und Abschätzung begann für die Europäer mit dem gelobten Land Amerika, in dem man nach der Flucht aus dem kontinentalen Elend als sehr willkommener Einwanderer sein Glück machen konnte. Dann kamen zwei Weltkriege und die jeweiligen Nachkriegszeiten: Da waren die USA der gute große Bruder, wobei es nach 1945 vielen Europäern aber irgendwie an der Fähigkeit zur Dankbarkeit für den US-Beitrag für die Befreiung vom Nazi-Regime, die Wiederaufbauhilfe und den amerikanischen Atomschirm in der Zeit des Kalten Krieges mangelte. Nicht nur linke Bewegungen versuchten die USA sogar zum Feindbild hochzustilisieren. Uncle Sam fühlte sich missverstanden und begegnete den Emanzipationsversuchen des alten Kontinents oft mit Überheblichkeit. In der Folge verwurzelte sich ein unterschwelliger Antiamerikanismus in den Europäern, der nicht nur als intellektuelle Attitüde, sondern auch in handfesten politischen Aktionen, etwa jenen Frankreichs, zutage trat.
Die Phase amerikanischer Dominanz in den transatlantischen Beziehungen geht mit dem Erstarken des europäischen Selbstbewusstseins - durch die Gründung der Europäischen Gemeinschaft, den Ausbau der Union und den Euro - langsam, aber sicher zu Ende. Europa ist zum Konkurrenten der USA geworden und es schweißt die Partner auch keine Sowjet-Bedrohung mehr zusammen. Die US-Hilfe im Balkan-Krieg hatte man im zögernd und eher mutlos reagierenden Europa noch mehr oder minder dankbar akzeptiert. Der Alleingang des Bush-Amerika mit dem Irak-Krieg ließ die Temperatur der Beziehungen unter den Nullpunkt sinken: Man sah sich gegenseitig entweder als verantwortungslose Kriegstreiber oder feige und unzuverlässige Bundesgenossen. Das versucht man nun mühsam zu reparieren.
Kein Anhängsel mehr
Auch wenn man den Irak-Krieg als Anlass der jüngsten transatlantischen Zerwürfnisses ausklammert, scheint etwa Tony Judt in seinem Beitrag in der jüngsten Ausgabe des "New York Review of Books" klar, dass Europa längst nicht mehr ein Anhängsel der USA ist, das mit einiger Zeitverzögerung US-Entwicklungen nachvollzieht. Im Gegenteil, er ist der Meinung, dass nicht die Europäer, sondern die USA in der eigenen Vergangenheit gefangen sind.
Hierher gehört - zumindest aus Sicht der Europäer - die starke Religiosität und die Vorliebe der Amerikaner für Waffen und Gefängnisse. Das belegt Judt, Europa-Spezialist an der New York University, auch mit Zahlen: In der EU kommen 87 Inhaftierte auf 100.000 Einwohner, in den USA 685. Treffend meint T. R. Reid in seinem neuen Buch "The United States of Europe: The New Superpower and the End of American Supremacy" zur zwiespältigen Moral der Amerikaner: "Sie plakatieren ,Liebe Deine Nachbarn', aber sie morden und vergewaltigen ihre Nachbarn in einem Ausmaß, das jede europäische Nation zutiefst schockieren würde."
Weniger für mehr Arbeit
Sicherheit ist aber nur eine Facette der Lebensqualität. Judt stellt die ketzerische Frage, was die Amerikaner eigentlich davon haben, dass mehr von ihnen länger arbeiten und mit vier bis zehn Tagen pro Jahr viel weniger Urlaub haben als die Europäer. Und er beantwortet die Frage gleich selbst: Nicht viel - wenn sie nicht wohlhabend sind.
Und er liefert auch harte Fakten nach: 45 Millionen Amerikaner haben keine Krankenversicherung. Die USA haben mit 15 Prozent des Nationalprodukts die höchsten Gesundheitsausgeben der Welt, liegen aber in der Qualität der medizinischen Versorgung an 37. Stelle. Die Säuglingssterblichkeit ist doppelt so hoch wie etwa in Schweden. Auch auf dem Bildungssektor steht Europa besser da. Die USA geben zwar in diesem Sektor mehr aus als alle anderen Nationen der westlichen Welt, das aber mit denkbar schlechtem Erfolg. Laut PISA-Studie rutschten die Mathematik-Kenntnisse amerikanischer Schüler innerhalb eines Jahre vom 18. auf den 24. Platz der Rangliste, bei den Naturwissenschaften ging der Abstieg vom 14. auf den 19. Platz; bei der erstmals getesteten Problemlösungsfähigkeit liegen die US-Schüler auf Platz 24 im Vergleich zur 15. Rangstufe ihrer österreichischen Kollegen.
Die Schere schließt sich
Der Wirtschaftsvergleich zwischen Europa und den USA zeigt einerseits die Notwendigkeit erhöhter Dynamik auf dem alten Kontinent, andererseits aber auch, dass sich der Abstand zu den USA bei vielen wichtigen Faktoren immer mehr verengt. Die Europäer arbeiten zwar weniger, aber sie nützen ihre Arbeitsstunden immer besser. Beim Bruttoinlandsprodukt pro Arbeitsstunde lag Europa im Jahre 1970 um 35 Prozent hinter den USA; heute sind es nur noch sieben Prozent, und die Schere schließt sich weiter. Bei der Produktivität je Arbeitsstunde liegen die USA gleichauf mit Österreich und Dänemark, aber etwa hinter den Niederlanden, Norwegen und Frankreich.
Natürlich haben amerikanische Intellektuelle auch etwas an Europa auszusetzen. So wird die Regulierungswut der EU-Kommission mit dem unvermeidlichen Beispiel der Gurkenkrümmung aufgezeigt, aber auch das Theater um den Stabilitätspakt belächelt. Ernster wird es dann schon beim Problem der Überalterung und der Pensionen, der Abschottung gegenüber Einwanderern und den aus US-Sicht zu großzügigen Arbeitslosengeldern. Das erfordere schwierige Entscheidungen mit schwerwiegenden Konsequenzen, von denen aber keine auf eine Demontage des Wohlfahrtsstaates hinauslaufe.
Als wirkliches Dilemma sehen die Amerikaner die Spannungen zwischen den einheimischen Bevölkerungen und den rasch wachsenden muslimischen Minderheiten. Vor allem die dritte, meist arbeitslose Generation der 1960 Eingewanderten sei anfällig für Ziele der radikalen Islamisten. Vier Jahrzehnte habe man vor der gesellschaftlichen Isolierung der Einwanderer und der Angst der Einheimischen den Kopf in den Sand gesteckt. Hinzu komme das Problem des Drucks von außen, dem die attraktive EU durch Flüchtlinge und illegale Einwanderer ausgesetzt sei. Amerikas Strategie einer globalen Konfrontation mit dem Islam wäre für Europa keine Option, sondern eine Katastrophe.
Timothy Garton Ash, Professor am St. Antony's College, Oxford, nimmt in seinem neuen Buch "Free World: America, Europe and the Surprising Future of the West" vor allem die USA kritisch unter die Lupe. Die EU leistete im Jahr 2003 Entwicklungshilfe in der Höhe von 36,5 Milliarden Dollar, die USA nur ein Drittel davon, wobei bei 80 Prozent der Summe die Empfänger verpflichtet wurden, dafür amerikanische Waren und Dienstleistungen einzukaufen. Für den Irak-Krieg geben die USA das Achtfache der Entwicklungshilfe aus.
Als die wirklichen Massenvernichtungswaffen sieht Ash die Armut in der Welt und die Umweltverschmutzung mit der Folge der Erderwärmung. Die USA verursachen mit fünf Prozent der Weltbevölkerung ein Viertel der Treibhausgase; auf einen US-Bürger entfällt ein jährlicher Kohlendioxidausstoß von 20 Tonnen, auf jeden Europäer nur neun Tonnen.
Nur noch 20 Jahre Zeit
Timothy Garton Ash setzt auf eine längerfristige Perspektive und meint, dass die transatlantische Allianz nur noch 20 Jahre Zeit habe, bis China zur Großmacht geworden sein werde. Wesentlich werde dabei sein, die Folgen des Verschwindens der Grenzen durch die Globalisierung als Herausforderung zu begreifen.
Der UN-Direktor für die friedenserhaltende Missionen, Jean-Marie Guéhenno, formuliert das Ziel: "Wenn wir die bequemen Grenzen verlieren, dann müssen wir jene Bande zwischen den Menschen wieder entdecken, die eine wirkliche Gemeinschaft ausmachen."