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Die alten Genossen im Marsch auf Brüssel

Von Inge Santner

Europaarchiv

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Brüssel, 1. Jänner 2004, Festakt am größten Tag der EU-Geschichte. Im Prunksaal des Palais Egmond sind die Staatspräsidenten und Regierungschefs der osteuropäischen Beitrittsländer versammelt, strahlend übers ganze Gesicht. Einer nach dem anderen tritt ans Mikrophon, lobt die Europäische Union, "der wir jetzt endlich angehören", beschwört die europäischen Werte, "die schon immer die unseren waren". Da öffnet sich hinten im Saal die Flügeltür. Als später Ehrengast erscheint Michail Gorbatschow. Noch im Türrahmen bremst er seinen raschen Schritt, schaut verdutzt nach vorn, strahlt dann ebenfalls übers ganze Gesicht. "Mein Gott, lauter gute Bekannte", ruft er freudig aus, "lauter alte Kommunisten!".

Eine absurde Vision? Nicht unbedingt. Ähnlich könnte sich die bevorstehende EU-Osterweiterung in der Tat abspielen. Denn der schalkhafte Weltgeist hat sich dafür ein höchst bizarres, überraschendes, aberwitziges Szenario ausgedacht: Der Einzug der Osteuropäer in die westliche Gemeinschaft wird gutteils unter der Führung strammer Exkommunisten vonstatten gehen.

Letzter einer langen Reihe

Bulgariens eben gewählter Staatspräsident Georgi Parwanow, bisher Führer der Sozialistenpartei, ist nicht etwa der erste, sondern bloß der letzte einer langen Reihe einstiger KP-Funktionäre, die heute wieder an den Schalthebeln der Macht werken. Gleich ihm haben die Staatsoberhäupter Polens, Rumäniens, Estlands, Sloweniens und der Slowakei ihr Polithandwerk in den Zeiten von Comecon und Warschaupakt gelernt. Dass obendrein noch einige Regierungschefs - so der polnische, so der slowenische - den gestrigen Kadern entstammen, komplettiert das aktuelle Bild in Rot.

In den Wunderjahren 1989/91, als der Eiserne Vorhang unverhofft hochging und KPdSU-Generalsekretär Michail Gorbatschow nebst seinen Satellitenstaaten auch die drei baltischen Sowjetrepubliken freigab, meinte man die Herrschaft der Politbüros ein- für allemal außer Kraft. Das "Gespenst des Kommunismus", das laut Karl Marx beständig "umgeht in Europa", schien von den Trümmern des zusammenbrechenden Kremlimperiums erschlagen. Keine Spur mehr von stalinistisch-leninistischem Mystizismus. Das abgehalfterte Regime hatte schier jegliche Faszination verloren. Seine Monopolstrukturen lösten sich auf. Die neu etablierten Parteien reüssierten umso leichter, je wütender sie gegen die "bolschewistischen Tyrannen" wetterten.

Nicht mehr urnenfüllend

Halten konnten sich lediglich ein paar nationalistisch eingefärbte Reformkommunisten, etwa der Slowene Milan Kucan, der bis dato Staatspräsident ist. Das Gros der Spitzenposten fiel automatisch an verdiente Dissidenten wie Václav Havel in der Tschechoslowakei, József Antall in Ungarn, Lech Walesa und Tadeusz Mazowiecki in Polen.

Inzwischen jedoch, bloß ein gutes Jahrzehnt später, ist der Antisozialismus schon längst nicht mehr urnenfüllend. Wieder hat der Wind umgeschlagen. Nun torkeln die rechten Parteien von Krise zu Krise. Die postkommunistischen dagegen - egal, ob sie sich "sozialistisch", "sozialdemokratisch" oder schlicht "links" nennen - legen kontinuierlich zu.

Dissidenten abgesetzt

Im Vorjahr gewannen sie die Präsidentschaftswahlen in Polen und Rumänien, überdies die Parlamentswahlen in Slowenien und Litauen. 2001 sicherten sie sich zusätzlich zur bulgarischen auch die estnische Präsidentschaft. Bei der Sejm-Wahl in Polen gelang ihnen sogar ein veritabler Erdrutschsieg. Von sämtlichen Dissidenten ist gerade noch Tschechiens Erster Mann Václav Havel in Amt und Würden, übrigens auch nicht mehr lang. Die anderen wurden abgesetzt, abgewählt, als unfähig in die politische Versenkung abgeschoben.

Ein klein wenig Glück vorausgesetzt, werden die Genossen auch morgen weitersiegen. In der Slowakei dürfte die Rückkehr des Erzpopulisten Vladimír Meciar kaum zu verhindern sein. In Ungarn liegt die sozialistische MSZP fünf Monate vor den nächsten Wahlen haarscharf Kopf an Kopf mit den derzeit regierenden Bürgerlichen.

Begreiflich, dass sich in Brüssel Nervosität breit macht. Was ist schief gelaufen? fragt man sich verwirrt in der EU-Zentrale. Warum krabbeln die tot geglaubten KP-Bonzen putzmunter aus dem Mülleimer der Geschichte? Erweist sich die angeblich irreversible Wende zu schlechterletzt eben doch als reversibel? War die Praxis der einst ersehnten westlichen "Freiheit" so ernüchternd, dass der Kommunismus jeglichen Schrecken verloren hat? Kurz, wird der Osten wieder rot - diesmal nicht durch blanken Terror und russische Panzer, sondern mittels unanfechtbar korrekter Wahlen (was ja noch viel schlimmer ist)? Entschieden gelassener geben sich die Politologen "an der Front", d. h. in Osteuropa.

Trotz evidenten Linksrucks

Alles halb so schlimm, winken sie beruhigend ab. Trotz des evidenten Linksrucks sehen sie die demokratische Ordnung der EU-Beitrittskandidaten in keiner Weise gefährdet, derzeit nicht und langfristig auch nicht. Ein Rollback der mühsam abgeschafften kommunistischen Diktatur erscheint ihnen glattweg undenkbar. Was sich zwischen Ostsee und Schwarzem Meer ereignet, ist in ihren Augen durchaus normal, mehr noch: unverzichtbar. Die Demokratie sei nun einmal ein langer Lernprozess, dessen einzelne Phasen nicht übersprungen werden könnten, am wenigsten die Phase der Enttäuschung. Schluss daher mit der kontraproduktiven Panik. Vonnöten wäre nichts weiter als Geduld. Und wirklich, die Beruhiger sollten Recht behalten. Unaufgeregt analysiert, bedeuten die postkommunistischen En-suite-Erfolge ganz sicherlich kein Votum für den realen Sozialismus der Vergangenheit.

Mühen der Marktwirtschaft

Vielmehr resultieren sie aus einer bunten Mixtur unterschiedlichster Motive. Da spielt der Frust über die Mühen der Marktwirtschaft mit, die Sorge um den Job, das Entsetzen ob der steigenden Kriminalität, der Ärger über die Happy Few, die sich's immer richten und meist auf Kosten der sozial Schwachen. Die breite Masse der Bevölkerung fühlte und fühlt sich verunsichert und heimatlos in einer Art Zwischenreich, das nicht mehr zum Osten und noch nicht zum Westen zählt.

Selbstmitleid kommt auf, Angst vor dem Neuen, nostalgische Sehnsucht nach dem Vertrauten, mag letzteres noch so unbefriedigend gewesen sein. "Das Beharrende in den Köpfen der Menschen hat sich als unerwartet beständig erwiesen" formuliert der liberale polnische Historiker und ehemalige Außenminister Bronislaw Geremek sehr vornehm. Im Soziologenjargon hört sich dasselbe schnoddriger an: Lieber die alte Scheiße als die neue Chance.

Ohne Frage waren es vorrangig die schlichten, im Grunde unpolitischen Protestwähler, die den Dominoeffekt auslösten und den Kommunisten von gestern zur Macht von heute verhalfen. Meist rekrutierten sie sich aus den ländlichen Gegenden, wo der Leidensdruck am größten ist. Mit linken Glaubensfragen hielten sie sich erst gar nicht auf. Weder übten sie die Internationale, noch ballten sie ihre Bauernhände zu Fäusten. Sie wählten einfach den erstbesten Redner, der sich dank marxistischer Rhetorik einigermaßen glaubhaft als Anwalt des kleinen Mannes präsentierte, der Korruption den Kampf ansagte und bessere medizinische Betreuung in Aussicht stellte. Wenn seine Verheißung nicht aufgeht, wenn sie sich abermals betrogen glauben, werden sie halt bei nächster Gelegenheit irgendeinen rechten Rhetoriker wählen.

Bekenntnis zum Reformkurs

Völlig problemlos ist die Erstarkung der diversen KP-Nachfolgeparteien natürlich nicht, wenngleich sie sich ausnahmslos und lautstark zur Fortsetzung des Reformkurses bekennen. Zumindest einige von ihnen stehen etlichen besonders kritischen kontroversen Fragen, zum Beispiel der Rest-Privatisierung, eher skeptisch gegenüber. Die innerparteilichen Flügelkämpfe zwischen demokratischen Sozialisten, Fast-schon-Sozialdemokraten und reinen Pragmatikern sind ja noch heftig im Gange. Auch die Gefahr der unheilvollen Allianz Altkommunisten: Neunationalisten - bekanntlich eines exzellenten Nährbodens für "starke Männer" - ist noch keineswegs gebannt.

Fast noch mehr irritiert die latente Demokratieverdrossenheit, die offenbar den gesamten europäischen Osten ergriffen hat. Nirgendwo gerieten die jüngsten Urnengänge, egal wie spannend, zum Publikumshit. Im Gegenteil, die Beteiligung sank von Mal zu Mal. Zur polnischen Parlamentswahl schleppten sich gerade 39,7 Prozent. Die Kür des bulgarischen Staatspräsidenten mobilisierte mit Ach und Krach 55 Prozent. Die tschechischen Senatswahlen fanden nahezu unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt.

Verwandt, nicht identisch

Dennoch, eine Katastrophe an die Wand zu malen, wäre maßlos überzogen. Der Vorwärtsmarsch in die Vergangenheit wird nicht in Diktatur und Klassenkampf münden. Unverändert altmodisch wirkt einzigallein die "Kommunistische Partei Böhmens und Mährens", die zirka fünfzehn Prozent des Wahlvolks anspricht. Alle übrigen postkommunistischen Bewegungen sind mit ihren Vorgängerinnen lediglich verwandt, keineswegs identisch. Sie heißen nicht nur anders, sie haben sich in der Tat gewandelt, zum Teil ehrlich geläutert.

Statt der einstigen Finsterlinge agieren lockere Technokraten in Nadelstreif, durchaus manierlich, oft akademisch gebildet und sprachenkundig. Erfahrungsgemäß entstammen sie selten dem ersten Glied der alten Nomenklatura. Meist kommen sie aus der zweiten bis vierten Garnitur, haben ein paar Jährchen in Universitätsinstituten verbracht, ein paar Lektionen Weltläufigkeit gelernt. Einen Aleksander Kwasniewski aus Polen, einen Algirdas Brazauskas aus Litauen, einen Lászlo Kovács oder gar Péter Medgyessy aus Ungarn hätte Josef Stalin unweigerlich als äußerst suspekten Bourgeois betrachtet und prompt in den Gulag geschickt.

"Go west"

Osteuropas neue Linke hält sich geradezu demonstrativ eifrig an die demokratischen Spielregeln, probt keinen Putsch, lässt sich selbstverständlich wieder abwählen. Mangels eines externen Zentrums bleibt ihr auch gar nichts anderes übrig. Die Kommandos kommen nicht mehr aus Moskau, die Warschaupaktarmeen marschieren nicht mehr zur Absicherung der strengen Bräuche. Putins Dauerlächeln in den USA hat selbst die klammheimlichsten Hintergedanken unmöglich gemacht. "Go west" heißt das zwingende Gebot der Stunde. Alternativen dazu fehlen gänzlich.

Drei osteuropäische Staaten - Ungarn, Tschechien, Polen - sind bereits in der NATO. Die restlichen drängen sich vor deren Eingangstür. Vollends chancenlos weiß sich jedes postkommunistische Land außerhalb der EU. Ob es ihnen passt oder nicht, die gewendeten Genossen müssen sich mit voller Kraft ins Zeug legen, um die Beitritts-Voraussetzungen zu schaffen. Paradoxerweise hängt ihre Chance auf Verbleib an der Mach zu allererst davon ab, wie entschlossen sie vorantreiben, was sie einstens als Kapitalismus verdammt haben.