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Die Lebenswelten werden individueller, die Sichtweisen polarisieren sich. Wie solidarisch können die Menschen untereinander in so einer Gesellschaft noch sein?
In Chicago kann man die Zukunft sehen. In den neuen Cafés an der North Milwaukee Avenue und Umgebung, ein paar U-Bahn-Stationen von Downtown entfernt, benötigt man etwas Zeit und noch mehr Geduld. Eine simple Bestellung kann schon einmal 20 Minuten dauern. Wobei dies weniger dem Ansturm geschuldet ist als der rituellen Prozedur, mit der sich das Personal, das sich hier als Barista versteht, der Kaffee- und Teezubereitung widmet.
Auch wenn die USA mit ihrer Tradition der ungenießbaren Heißgetränke gebrochen haben, findet man in den klassischen, alten Diners, auch in Chicago, nach wie vor diese schwarze Suppe auf der Warmhalteplatte, die Kaffee entfernt ähnelt. Unter Tee versteht man in diesen Lokalen ein Lipton-Sackerl im eher lauwarmen Wasser mit weißlichem Schaum an der Oberfläche. Es sind Getränke für Mutige.
In den neuen Cafés ist dagegen schon die Bestellung ein Erlebnis. Es gibt eine große Auswahl an Tees und speziellen Kaffeezubereitungsarten, dann wird - tatsächlich! - die Grammwaage hervorgeholt, der selektierte Tee exakt abgewogen, mit echt kochendem Wasser übergossen und eine Eieruhr programmiert. Vermutlich eine solche, die die Zeit in Zehntelsekunden bricht.
Interessant ist dabei nicht, dass auch die avancierte Trinkkultur in Cafés in den USA angekommen ist, sondern vielmehr, dass es offenbar dazwischen nichts mehr zu geben scheint, zwischen der kulinarischen Bedrohung in Form einer lauwarmen Brühe und der fast ins Religiöse gehobenen Art der Kaffee- und Teezubereitung. Zumindest, wenn man das grassierende Phänomen Starbucks außer Acht lässt.
Die Aufwertung des Normalen zum Besonderen kennzeichnet dabei eine generelle Entwicklung, die sich nicht nur bei Kaffee und Tee und auch nicht nur entlang der North Milwaukee Avenue in Chicago zeigt. Die Evolution des Konsums nimmt bisweilen bizarre Formen an. Gut allein reicht schon lange nicht mehr. Doch der Konsum ist auch nur eine von mehreren Beobachtungen, die offenbaren, dass die Lebensweisen der Menschen, und das besonders augenscheinlich in Großstädten, regelrecht auseinanderzukippen scheinen und in Extreme verfallen.
Auch in gesellschaftspolitischen Fragen findet eine rasante Entwicklung statt, jedoch eine exakt umgekehrte. Sie reduziert das einst Besondere zum Normalen. Das betrifft ganz allgemein Sexualität sowie speziell Homosexualität. Es betrifft ethischen Konsum bis hin zum Veganismus sowie Multikulturalität und Political Correctness. Dabei wächst die Anzahl und Geschwindigkeit der Diskurse. Ein Beispiel dafür bietet die Schwulen- und Lesbenbewegung: 16 Jahre kämpften diverse Organisationen in Österreich für die Abschaffung des "209ers", der Geschlechtsverkehr von 19-jährigen homosexuellen Männern mit unter 18-Jährigen unter Strafe stellte. Erst 2002 kippte der Verfassungsgerichtshof diesen diskriminierenden Paragraphen. Das ist also noch nicht lange her. Das Tempo der rechtlichen Angleichung hat seither merklich zugenommen. Seit fünf Jahren können sich gleichgeschlechtliche Paare verpartnern, heuer fiel das Adoptionsverbot. Für die Homo-Ehe gibt es zwar keine politische Mehrheit, wenn man aber Umfragen Glauben schenkt, befürwortet bereits ein Großteil der Bevölkerung die Öffnung der Ehe für Homosexuelle. Im katholischen Irland hatten bei einem Referendum 62 Prozent dafür gestimmt.
Es ist der Gang der Dinge, dass aus Meinungen und Forderungen einer bestimmten, anfangs oft kleinen Gruppe irgendwann Mehrheitsmeinungen werden können. Und manchmal entsteht in weiterer Folge sogar ein gesellschaftlicher Konsens. So wird heute kaum jemand das Frauenwahlrecht in Frage stellen oder das Schuldprinzip bei Ehescheidungen zurückfordern, dabei ist Letzteres in Österreich erst 1977 aus dem Gesetz verschwunden.
Gleichzeitig mit der wachsenden Dynamik der gesellschaftspolitischen Debatten ist aber auch eine reaktionäre Strömung festzustellen, die Liberalisierungstendenzen sehr ablehnend gegenübersteht. Wobei einander die Apologeten und Antagonisten zunehmend unversöhnlich und verständnislos gegenüberstehen. Dieser, in seiner Lautstärke auch durch soziale Medien. Blogs und Foren verstärkte Konflikt geht so weit, dass die Gegenseite in klischeebehafteten Beschreibungen entlang vermuteter Lebensweisen verunglimpft wird. Auf der einen Seite die Grün-wählenden, homosexuellen Radfahrer, politisch überkorrekten Bio-Veganer und Gutmenschen, auf der anderen Seite die FPÖ-wählenden Gabalier-Jünger mit Hang zu Schäferhund, Menschenfeindlichkeit, schlechter Ernährung und Rechtschreibfehlern.
Politisch ruhige politische Jahrzehnte
Dass sich die Realität natürlich nicht an diese Klischees hält, tut zwar nichts zur Sache, doch machen sich mitunter jene automatisch verdächtig, die Lebensweisen der jeweils anderen Seite übernehmen. Dann herrscht Rechtfertigungsbedarf.
Dem politischen Diskurs ist eine derart unversöhnliche, mit starren Positionen festgezimmerte Unstimmigkeit nicht gerade zuträglich. Doch sind politische Auseinandersetzungen und damit einhergehende gesellschaftliche Spaltungen keine historische Auffälligkeit. Eher waren die vergangenen Jahrzehnte in dieser Hinsicht ungewöhnlich ruhig. Wobei zwei Beobachtungen interessant sind. Erstens spielen die beiden ehemaligen Großparteien und politischen Lager in diesem Diskurs fast keine Rolle mehr. SPÖ und ÖVP stehen mittlerweile wohl beide für eine mehr (ÖVP) und weniger (SPÖ) konservative Linie, oder beide sind müde geworden, jahrzehntelange Dauerkämpfe in der Öffentlichkeit auch weiterhin auszutragen. So ist derzeit in Sachen Homo-Ehe die Luft auf Regierungsebene völlig draußen.
Es sind die kleinen Oppositionsparteien, Grüne und Neos, die man heute als Fortschrittsparteien identifizieren würde, die sich selbst als gesellschaftspolitisch liberal sehen und deren Zukunftsbeschreibungen von einer optimistischen Weltsicht künden. Was jedoch den Grünen auch den Vorwurf der Realitätsverweigerung einhandelt, vor allem vom politischen Gegner, der FPÖ. Die Freiheitlichen stellen in diesem Grundkonflikt der reaktionäre Gegenpol zu Neos und Grünen dar, wobei das konservative Weltbild der FPÖ noch durch Retro-Botschaften bin hin zur Schillingnostalgie erweitert wird.
Ein zweiter bemerkenswerter Punkt ist, dass Konflikte zu Lebens- und Sichtweisen im Vordergrund dieser gesellschaftlichen Spaltung stehen und nicht ökonomische Verteilungskämpfe wie einst. Und dies trotz wachsender Ungleichheit, die zwar durchaus thematisiert und kritisiert wird, jedoch nicht mehr entlang früherer Rechts-Links-Dialektik. Vielmehr finden sich FPÖ und Grüne mitunter hier auf einer Linie, etwa bei Banker-Boni. Wobei das Trennende einem gemeinsamen Vorgehen häufig im Weg steht. Vielleicht auch ein Grund, weshalb breite, gesellschaftliche Allianzen in der Verteilungsfrage derzeit nicht in Sicht sind.
Die Flüchtlingsdebatte hat abseits der sachlichen Ebene auch diesen gesellschaftlichen Grundkonflikt befeuert. Mehr noch: Zwischen Welcometräumen und Zaunfantasien hat sich die Polarisierung für jeden klar erkennbar offenbart, die aber natürlich nicht erst durch die Migrationswelle entstanden ist. Sie war schon vorher da.
Dabei erwischt diese Polarisierung das Land nicht nur in einem Zustand einer größer werdenden Kluft zwischen Arm und Reich, sondern auch einer fortschreitenden Individualisierung, die sich auch entlang bereits beschriebener Liberalisierungstendenzen und Konsumgewohnheiten zeigt sowie bei den vielen neuen Formen von Arbeitverhältnissen. Dies wirft die Frage auf, welche Auswirkungen so ein gesellschaftliches Auseinanderdriften für das Zusammenleben hat, gerade in einer Großstadt wie Wien, wo sich die Lebenswelten noch akzentuierter zeigen.
Die Soziologie beschäftigt sich seit mehr als 100 Jahren mit der Frage, inwieweit die Heterogenisierung einer Gesellschaft ihre innere Solidarität gefährdet. Und noch länger ist es her, dass Individualismus generell als Bedrohung wahrgenommen wurde, verstärkt durch postrevolutionäre Enttäuschungen im 19. Jahrhundert, als die negativen Begleiterscheinungen des Industriezeitalters, vor allem der entstandene Pauperismus, in ihrer gedachten Fortschreibung dystopische Fantasien auslösten.
Heute wird Individualismus primär mit Freiheit und Selbstbestimmung, also sehr positiv, assoziiert, manchmal werden sogar verwandte negative Attribute wie Geiz oder Egoismus als erstrebenswert propagiert ("Geiz ist geil").
In einer jüngeren Arbeit, vor zehn Jahren, stellten die Ökonomen Edward Glaeser und Alberto Alesina einen Zusammenhang zwischen sozialer Fragmentierung und redistributiver Politik dar. Daher ist die Frage der Solidarität auch in einen Bezug zum Wohlfahrtstaat zu stellen. Die zwei Harvard-Professoren verglichen in ihrer Studie die USA mit Westeuropa und zeigten, dass die soziale Mobilität der einkommenschwächsten Schichten in Europa deutlich höher ist als in den USA. Nach wie vor spiele dort auch Rasse eine Rolle. Die Akzeptanz staatlicher Wohlfahrt ist demnach in ethnisch segregierten Vierteln größer und nimmt in durchmischten ab.
In Österreich kommt diesem Aspekt in Debatten über Zuwanderung bemerkenswert wenig Bedeutung zu. Vielleicht auch, weil der Sozialstaat weniger als gesamtgesellschaftliche Errungenschaft gesehen wird als etwa in Skandinavien. Diskutiert wird daher kaum, wie in einer zunehmend auch religiös und kulturell heterogenen Gesellschaft der solidarische Gedanke aufrechterhalten werden kann, der eine Basis für den Sozialstaat darstellt.
Im Vordergrund steht der gesellschaftspolitische Konflikt zwischen Multikulti und der Angst vor Islamisierung, in dessen Fahrwasser aber auch ein Verteilungskampf gedeiht. Es geht darum, was wem "zusteht", wobei die FPÖ einen eindeutigen Standpunkt vertritt: "Unser Geld für unsere Leut!"
Die Kosten der Migrationswelle und die künftigen Einnahmen
Dabei ist gar nicht sicher, ob auf längere Sicht die volkswirtschaftlichen Kosten der Migrationswelle (Unterbringung, Versorgung, Qualifizierung) tatsächlich zukünftige Einnahmen (Steuern, Abgaben, Arbeitsleistung) übersteigen. Wie diese Rechnung in 20 Jahren aussehen wird, hängt von mehreren Faktoren ab, von denen man einige mit Integration zusammenfassen könnte.
Ein Verteilungskampf, wie er sich bei der Zuwanderung, aber auch bei intergenerationellen Konflikten zeigt, stellt aber jedenfalls eine grundsätzliche Bedrohung des Sozialstaats dar. Egal, ob Österreicher gegen Ausländer, Nicht-Raucher gegen Raucher (höhere Abgaben!) oder Junge gegen Alte (weniger Pension!) kämpfen. So gesehen ist die jüngste Forderung der ÖVP, aufgrund der Flüchtlingskosten eine Deckelung bei der Mindestsicherung einzuziehen, als problematisch zu werten. Es ist in der Argumentation ein fundamentaler Unterschied, ob man sinngemäß erklärt, dass die Armen den Staat zu viel Geld kosten, was so wohl kein Politiker sagen würde, oder ob die Flüchtlinge so viel kosten. Die Konsequenz wäre freilich dieselbe. Eine Kürzung der Mindestsicherung würde alle Bezieher treffen.
Dass sich Zuwanderer durch ihre Lebensweise, Sprache und im aktuellen Fall auch kulturelle Prägung von der autochthonen Bevölkerung unterscheiden, ist nun einmal eine Tatsache. Wenn man Glaeser und Alesina folgt, stellt daher diese Ungleichheit für die Erhaltung eines solidarischen Gefühls - nicht zu verwechseln mit dem Gefühl, helfen zu wollen - eine Herausforderung dar.
Zur Solidarität braucht es offenbar ein gewisses Maß an wechselseitiger Identifikation und Empathie. Wenn sich Migranten in die Gesellschaft hineindenken können, werden sie sich ihr gegenüber solidarischer verhalten. Umgekehrt gilt dies genauso. Jedoch werden gegenwärtig fast ausschließlich die Differenzen durchdekliniert, und zwar jene, die eine negative Distinktion zu "unseren Werten" darstellen: Anti-Liberalität, Antisemitismus, veraltetes Frauenbild und so weiter. Auf Gemeinsamkeiten wird so gut wie gar nicht hingewiesen, und auch nicht auf positive Unterschiede, etwa die in muslimischen Ländern ausgeprägte Gastfreundschaft.
Das Flüchtlingsthema steht dabei nur als Beispiel für die Notwendigkeit innerhalb einer Gesellschaft, sich in Lage und Lebensweise des anderen hineinversetzen zu können. Und da könnte die Polarisierung, dieses Auseinanderkippen der Lebenswelten, eine unheilvolle Rolle spielen, die weit über die Frage hinausgeht, ob und in welchem Ausmaß Zuwanderern Sozialleistungen zustehen.
Es hat auch, aber nicht nur mit der wachsenden Ungleichheit zu tun. Ökonomische Unterschiede tragen zwar auch zur Heterogenisierung bei, können aber einfacher wegimaginiert werden, notfalls mit Hilfe eines vorgestellten Lotto-Gewinns im positiven oder dem Verlust des Arbeitsplatzes im negativen Fall. Wenn aber zusätzlich noch die Lebensweise des anderen auf Unverständnis oder gar Ablehnung stößt, fällt die Identifikation schwerer. Zumal die verbindenden Elemente zwischen den Lebenswelten weniger zu werden scheinen.
Auch hier gibt Chicago einen Blick in die Zukunft. Ethnische Segregation kennen die Städte in den USA schon lange, nun wird dies aber mit einer räumlichen Trennung nach Lebensweisen ergänzt. Nirgendwo in Chicago gibt es so viele Künstler, Kreative und Studenten wie rund um die North Milwaukee Avenue. Wie immer man auch dieses Phänomen benennt, gekennzeichnet wird es jedenfalls durch eine Mainstreamisierung von alternativen, man kann auch sagen: individualistischen Lebensweisen. Es gilt, wie anfangs erwähnt: Das Besondere wird zum Normalen.
Das betrifft auch die Arbeitswelt. Freiberuflichkeit wird zum Ideal, auch in Österreich steigt der Anteil der Selbständigen stetig. Der Wunsch nach beruflichen Selbstbestimmung mag naheliegend sein. Die Kehrseite ist, dass es die Konkurrenz auf dem Arbeitsmarkt verstärkt und gleichzeitig die Möglichkeit, gemeinsam, in der Regel gewerkschaftlich, für bessere Bedingungen und einen höheren Anteil am Profit zu kämpfen, schwächt. Bezeichnenderweise offenbart sich auch bei Gewerkschaften ein innerer Verteilungskampf zwischen Jung und Alt.
Der Trend zur Selbständigkeit könnte auch insofern die Segregation fördern, da größere Büros und Betriebe auch Orte sind, in denen Menschen unterschiedlicher Herkunft und mit divergierenden Lebensweisen zusammenkommen. Wenn dies komplett wegfällt, schwächt dies die wechselseitige Identifikationfähigkeit, die wichtig für Solidarität und Sozialstaat ist.
Es begünstigt eher das Entstehen einer Art Parallelgesellschaft, die bisher fast nur im Zusammenhang mit Zuwanderern aus muslimischen Ländern beschrieben wird: türkische Kulturvereine, islamische Kindergärten, Supermärkte und Lokale. Um die North Milwaukee Avenue in Chicago hat sich jedoch längst eine vergleichbare Parallelgesellschaft mit entsprechender Infrastruktur gebildet, mit Cafés, Tattoo-Studios, Ateliers und Co-Working-Spaces. Es ist eine Welt für sich, eine Welt, die nach innen gut funktioniert. Wohl auch wegen ihrer Homogenität. Doch gesamtgesellschaftlich?