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Sergio Yahni fuchtelt wild mit seinen Armen herum. Auf einer Tafel in dem winzigen Büro des "Alternative Information Center" (AIC) in Ostjerusalem, das sich seit Jahren für eine gerechte Friedenslösung einsetzt, versucht er, uns am Beispiel des Westjordanlandes die israelische Siedlungspolitik anschaulich zu machen. Und seine Empörung. "Hier, das sind alles jüdische Siedlungen, brüllt der jüdische Ko-Direktor der israelisch-palästinensischen Organisation, auch um den durch das offene Fenster dröhnenden Straßenverkehr zu übertönen, und malt mit der Kreide viele dicke rote Punkte auf seine Karte der Westbank. "Nimmt man noch die Bypass-Straßen her, die die Siedlungen untereinander und mit dem Kernland Israel verbinden" - Sergio markiert fleißig - "bleiben ein paar isolierte Sprenkel übrig". Das sind die Gebiete unter palästinesischer Kontrolle - "kleine Inseln, angelegt wie Zellen in einem Gefängnis". Sergio Yahni ist fassungslos. "Glaubt denn irgendjemand allen Ernstes, dass so ein friedliches Miteinander möglich ist?" Israel müsse endlich die völkerrechtswidrige Besatzung des Gaza-Streifens und der Westbank beenden und die Siedlungen räumen. "Das ist nicht unser Land!" Das war im Juni des Vorjahres.
"Schmutziger Krieg"
Mittlerweile sitzt Sergio wegen Kriegsdienstverweigerung in Militärhaft. Sergio hat bei der letzten Einberufung nicht nur den Einsatz in den besetzten Gebieten verweigert, wie andere gleichgesinnte Armeereservisten auch (das tut er schon seit 15 Jahren), sondern weigert sich, für sein Land überhaupt noch eine Waffe in die Hand zu nehmen. Er diene in "keiner Institution, die Kriegsverbrechen begeht und die Palästinenser unterdrückt", heißt es lakonisch in seinem Brief an Verteidigungsminister Benjamin Ben-Eliezer. Aber genau dies tue die Armee - "der bewaffnetete Arm der Siedlerbewegung" - mit ihren "extralegalen Hinrichtungen, ihrem Mord an palästinensischen Frauen und Kindern und ihrer Zerstörung der sozialen und wirtschaftlichen Infrastruktur der Bevölkerung". Der Sicherheitseffekt sei gleich null, steht weiter im Brief an den Verteidigungsminister. "Auch Panzer in Ramallah können Ihre monströse Kreation nicht stoppen: die Verzweiflung, die in Kaffeehäusern explodiert".
Danke, es reicht
So weit wie Yahni gehen wenige. Die Zahl derer aber, die sich weigern, in den Autonomiegebieten zu dienen, um dort "Palästinenserdörfer zu bombardieren, Flüchtlingslager zu stürmen oder auf Steine werfende Jugendliche und Kinder zu schießen" (Zitat eines Reserveoffiziers), wächst. Wenngleich Armeeführung wie Regierung Zahlen beharrlich verschweigen, dürften sie sich um die 400 bewegen. Auch Frauen sind darunter. "Wir sind kein Kanonenfutter für die politischen Ambitionen eines Groß-Israel", heißt ein Slogan (in Anspielung an die lebensgefährlichen Siedler-Schutzkonvois), "die Okkupation killt uns alle" ein anderer. Zuletzt erhielten die "Refuseniks" Rückendeckung von hoher moralischer Stelle: Ex-Generalstaatsanwalt Michael Ben Yair gab in "Yediot Ahronot" unumwunden zu, dass er den Dienst hinter der grünen Linie ebenfalls verweigern würde.
Auch kritische Journalisten machen der israelischen Öffentlichkeit das Wegschauen vor den massiven Menschenrechtsverletzungen zusehens schwerer, wie Amira Hass oder Gideon Levy, die in der linksliberalen "Haaretz" offen über die Kriegsverbrechen der Armee berichten und sie heftig anprangern. Hass deckte seit Beginn der Intifada mehrmals auf, dass die israelischen Streitkräfte bewusst Falschinformationen lancierten. Sie täten es, um den Mythos nicht zu zerstören, die Armee bekämpfe mit Panzern und F-16-Bombern lediglich palästinensische Terroristen und beschütze friedliche jüdische Siedler. Die Tochter einer Holocaust-Überlebenden zog 1993 knapp nach der Unterzeichnung des Osloer Friedensabkommens nach Gaza-Stadt und lebt seit 1997 in Ramallah, um den Alltag der Palästinenser kennen zu lernen, "ihre Sorgen und Ängste", wie sie sagt. Wegschauen ist nicht das Ihre, und so hat für sie auch der Widerstand des palästinensischen Volkes seine Logik. Ihren Landsleuten empfiehlt sie, in die Autonomiegebiete zu kommen und sich das Kräfteverhältnis in dem Zermürbungskrieg eimal anzuschauen - wer bedroht wird und wer bedroht. Aber leider sei die Einreise verboten.
Andere Kommentatoren gehen vor dem Hintergrund der endlosen Spirale der Gewalt der Frage auf den Grund, ob sich der israelische Regierungschef, als er im Februar 2001 mit dem vollmundigen Verprechen "Nur Sharon kann Frieden und Sicherheit bringen" die Wahlen gewann, nicht ein wenig übernommen hat. "Wir haben genug von Euch, packt Eure Sachen, gebt die Schlüssel ab und verlasst die Regierung", titelte etwa die auflagenstärkste Zeitung des Landes, "Yediot Ahronot" Anfang März, nachdem binnen 10 Tagen 35 Israelis und 74 Palästinenser getötet worden waren, darunter 5 Selbstmordattentäter. Zuvor hatte Sharon in einem Statement verkündet, Israel sei "dabei, den Krieg gegen die Palästinenser zu gewinnen". Yoel Marcus mutmaßte in "Haaretz" eine "vermutliche Überdosis an Vitaminen" (in Folge einer Grippeerkrankung). Seit dem ersten Tag im Amt habe Sharon nichts anderes getan als Terror und Gewalt zu bekämpfen - und immer mehr davon zurück bekommen. Die Kritiker sprechen ihm ab, ein politisches Konzept gegen die Krise zu haben. Abgewirtschaftet hat der Likud-Hardliner mit dem Bulldozer-Image nicht nur medial, auch bei der Bevölkerung bekam er wegen der hohen Opferzahlen und kollektiver Terrorangst Kratzer ab. 53 Prozent sind mit Sharons Poltik unzufrieden.
Der Masterplan
Uri Avnery, der Doyen der israelischen Friedensbewegung, spricht Sharon so gut wie alles ab, nur nicht die kolportierte Planlosigkeit. Dieser Politiker fühle sich schon "seit Dekaden von der Geschichte dazu berufen, "ganz Erez Israel zu erobern, es von der palästinensischen Bevölkerung zu säubern und mit Siedlungen zu bedecken", und diesen seinen Masterplan wolle er nun um jeden Preis zu Ende bringen, schreibt der Gründer der größten Friedensbewegung "Gush Shalom" in der Online-Ausgabe der Organisation "Occupational Hazard". Dazu muss er zunächst die Palästinenserführung als politischen Faktor ausschalten. Sharon weiß, dass ihm nicht viel Zeit bleibt. Umso gnaden- und skrupelloser gehe er vor. "Ströme von Blut halten ihn nicht ab, die Zahl der Toten ist nur ein kleiner Nebenfaktor in seinen Kalkulationen". Am liebsten wäre ihm ein palästinensischer Bürgerkrieg, Sharons Forderung an Arafat, Hamas- und Jihad-Kämpfer zu verhaften, zielten darauf ab. Am fatalsten wäre für ihn ein Ende der Gewalt. Doch dafür, so Gideon Samet ("Haaretz"), gebe es ohnehin keinen Anlass: Sharon habe bis jetzt alles in seiner Macht Stehende getan, um die Lage nicht zu beruhigen. Erst vorgestern bereute er sein Verprechen, Arafat physisch nicht zu beseitigen.