Guy Verhofstadt, EU-Spitzenkandidat der Liberalen, will den Dritten Weg zwischen Austerität und Investitions-Offensive.
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Wien. Der frühere belgische Premier Guy Verhofstadt ist seit 2009 Mitglied des Europaparlaments und Spitzenkandidat der liberalen ALDE-Gruppe für die Europawahlen. Die Vertreter der ALDE trafen gestern, Freitag, in Wien zu ihrer Wahlkampfauftakt-Veranstaltung zusammen.
"Wiener Zeitung": Die Liberalen wollen, so haben Sie bereits angekündigt, bei den Europawahlen für eine Überraschung gut sein.Guy Verhofstadt: Ja, das wollen wir. Wir hoffen auf die Etablierung eines starken, liberalen, pro-europäischen Blocks innerhalb des Europaparlaments. Während alle den Nationalisten und Rechtspopulisten hohe Zugewinne vorhersagen, möchten wir mit einem Erfolg der Pro-Europäer überraschen. Und das ist durchaus realistisch. Es treten viele neue liberale Listen an: Die österreichischen Neos nehmen das erste Mal an Europawahlen teil - in anderen europäischen Ländern gibt es ebenfalls eine Dynamik. Wir wollen im Europaparlament zumindest drittstärkste Kraft hinter den Sozialdemokraten oder Konservativen werden und jedenfalls vor den Rechtspopulisten und Nationalisten landen.
Sehen Sie nicht die Gefahr, dass die Liberalen - und vor allem der liberale Kommissar für Wirtschaft und Währung, Olli Rehn - mit der Krise und der unbefriedigenden Krisenbewältigung in Zusammenhang gebracht wird? Oder dass man den Liberalen vorwirft, dass Deregulierung und entfesselte Finanzmärkte Märkte die Krise verursacht haben?
Rehn hatte europäische Beschlüsse zu implementieren. Er hat seinen Job außerordentlich gut gemacht. Man beklagt ja auch nicht, dass der Wettbewerbskommissar hohe Strafen gegen bestimmte Unternehmen verhängt, wenn sie gegen europäisches Recht verstoßen haben. Man sollte die Schuld für die Probleme Europas bei den Staats- und Regierungschefs - allesamt entweder Sozialdemokraten oder Konservative - suchen. Sie haben ihre Staaten und damit auch die EU in jene Kalamitäten gebracht, unter deren Folgen wir nun seit Jahren leiden.
In Berlin waren in den Jahren der schlimmsten Krise Liberale mit an der Regierung.
Und was war die Folge? Die deutsche Wirtschaft hat sich hervorragend geschlagen. Wir Liberale haben eine andere Lösung anzubieten als Konservative oder Sozialdemokraten: Ja, wir brauchen Fiskal-Disziplin. Aber wir sagen auch: Was fehlt, ist eine klare Wachstumsstrategie. Unser Ansatz: Wir brauchen eine neue Welle des europäischen Integrationsprozesses. Die Sozialdemokraten wollen an den Rezepten der Schuldenfinanzierung und die Konservativen am Status quo festhalten. Wenn wir es schaffen, die Integration der Märkte in einigen Schlüsselsektoren zu schaffen, etwa im Daten-, Telekom- oder Energie-Bereich, dann bringt das Wachstum.
In einigen Fällen waren nicht die Staaten das Problem für die Krise, sondern der private Finanzdienstleistungs-Sektor. Etwa in Spanien. Der Staat als Trouble-Shooter für den privaten Sektor - das kann einem Liberalen doch nicht gefallen.
Das Argument kenne ich - der Sozialdemokrat Martin Schulz sagt das immer. Was Spanien betrifft, mag das auch stimmen, für eine Reihe weiterer Länder - Italien, Portugal oder Griechenland - stimmt das einfach nicht.
Wir Liberalen sagen: Lasst uns die Kraft des gemeinsamen Marktes nutzen. Wir haben in Europa etwa noch immer keinen gemeinsamen Kapitalmarkt. In den vergangenen sechs Jahren hat sich die Summe der Kredite, die an Klein- und Mittelbetriebe gegangen ist, um 10,5 Prozent verringert. Wo sollen Jobs herkommen, wenn niemand investiert, wenn es nach wie vor eine Kreditklemme gibt? Ein Beispiel: Angenommen, ich besitze in Belgien Vermögen, das ich als Sicherheit für eine Investition in Italien verwenden möchte. Funktioniert nicht. Die Konsequenz: Die Liquidität der Kapitalmärkte ist in Europa geringer als in den USA. Oder denken wir an den digitalen Markt: Warum gibt es keine einzige europäische Firma vom Zuschnitt wie etwa Google oder Facebook? Weil wir noch immer fragmentierte Märkte haben.
Viele Menschen haben das Gefühl, in einem Europa der Bauern, Bonzen und Banker zu leben, um es ganz populistisch und plakativ zu formulieren. Für die arbeitenden Mittelschichten hat Europa wenig gebracht - finden zumindest die Wähler euroskeptischer Parteien. Bauern werden subventioniert, Arbeiter hören, sie sollten endlich mobiler und flexibler werden.
Aber das ist doch zu ihren Gunsten! Wir haben in Europa vier Millionen freier Stellen. Mehr Mobilität heißt, dass man mehr Menschen Arbeit geben kann.
Und wie begegnen Sie der Unzufriedenheit der Arbeiterschicht oder der Besitzer kleiner Betriebe? Diese Menschen haben das Gefühl, sie zahlen den Preis für ein liberalisiertes Europa.
Sie zahlen den Preis für dieses Europa und für diese europäische Politik. Aber das Problem ist nicht Europa, Europa ist die Lösung. In den USA ist die Krise seit zwei, drei Jahren überwunden, in Amerika gibt es wieder Wachstum. Die Antwort der Liberalen auf diese Unzufriedenheit: Natürlich müssen wir über Ziele für Wettbewerbsfähigkeit, über Forschung und Entwicklung sprechen. Aber: Wir wollen auch minimale soziale Standards. Wenn wir aber in einer Strategie der Konvergenz soziale Parameter festzurren, dann wird Europa zum ersten Mal von den Bürgern als eine Garantie für das europäische Gesellschaftsmodell gesehen.
Wie halten es die Liberalen mit dem Wohlfahrtsstaat?
Dieses soziale Modell kann man nur in einem freien Markts finanzieren. Wir sind auch nicht gegen Regulierung, sondern gegen Überregulierung. Wir waren die Ersten, die gesagt haben, es braucht auch bei Finanzprodukten eine Qualitätskontrolle. Denn das ist ja absurd: Für die Qualität von Milch und Eiern haben wir strenge Qualitätskriterien, für die Qualität von Finanzprodukten nicht.
Die Beschwörungsformel vom Friedensprojekt Europa erfährt angesichts der Ukraine-Krise gerade eine Renaissance. Eine Chance für pro-europäische Parteien?
Die junge Generation kennt den Krieg nicht. Die Ukraine zeigt, dass die Idee des Friedensprojekts nach wie vor höchst relevant ist. Schade, dass einige populistische und nationalistische Parteien das Spiel des russischen Präsidenten Wladmir Putins spielen. Putin will eine schwache EU. Die Rechtspopulisten ebenso. Marine Le Pen von der Front National sagt, dass Sie Frankreich außerhalb der EU haben will. Damit unterstützt sie Putin. Die Frage ist: Steht ihre Aussage in Einklang mit den republikanischen Werten Frankreichs oder stellt sie sich damit nicht auf die Seite des autoritären, neo-zaristischen Russlands?